„Die Risiken sind ungleich verteilt“: Warum die Coronakrise Ungleichheit verstärkt
Die Krise trifft Geringverdiener hart, von denen viele ihren Job verlieren. Auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nimmt zu.
Das Coronavirus schweißt die Gesellschaft zusammen. Oder es spaltet sie. Denn während kurzfristig die Bereitschaft steigt, anderen zu helfen, könnte langfristig die Schere zwischen Arm und Reich durch die Krise weiter auseinandergehen. Zwar schützt Geld nicht vor Corona – auch Prinzen, Staatschefs, Wirtschaftsbosse stecken sich an. Doch wer vermögend ist, kommt sehr viel leichter durch diese Zeit. Er kann sich eher isolieren, sitzt im Garten statt in der beengten Zwei-Zimmer-Wohnung. Und er kann von Zuhause aus arbeiten – während gerade viele Menschen mit niedrigem Einkommen ihren Job verlieren oder in Kurzarbeit geschickt werden.
Wie weit die Kluft in der Gesellschaft auseinandergeht, zeichnen Forscher der Universität Mannheim nach. Sie befragen jede Woche 3500 Menschen dazu, wie sich ihr Leben durch die Pandemie verändert. Ein erstes Ergebnis: Je niedriger der Schulabschluss, desto seltener können Angestellte ins Homeoffice wechseln. So haben zuletzt 40 Prozent der Deutschen mit einem hohen Schulabschluss von Zuhause aus gearbeitet, während das unter denjenigen mit einem niedrigen Abschluss gerade einmal sechs Prozent möglich war. Das lege den Schluss nahe, dass die Coronakrise die soziale Ungleichheit im Land weiter verstärkt, schreiben die Forscher.
Folgen hat das sowohl für die Gesundheit als auch für die finanzielle Situation der Menschen. „Die Risiken der Pandemie sind ungleich verteilt“, schreiben die Wissenschaftler. „Untere Einkommensgruppen haben aufgrund ihrer Arbeit vor Ort vermutlich ein größeres Risiko sich mit dem Coronavirus anzustecken.“
Es entsteht eine "Hierarchie der Not"
Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell spricht deshalb von einer „Hierarchie der Not“. Verstärkt wird diese dadurch, dass gerade in den Branchen, die besonders unter dem Shutdown leiden, die Löhne sehr niedrig sind: in der Gastronomie oder im Einzelhandel. Wer in diesen Bereichen arbeitet, hat häufig keine Rücklagen – verliert er den Job, wiegt das schwer.
Wie groß das Problem ist, zeigen Zahlen, die das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) für Schleswig-Holstein erhoben hat. Dort arbeiten 240 000 Menschen in Betrieben, die vom Shutdown betroffen sind – 80 000 von ihnen sind Geringverdiener. Dramatisch ist dabei die Lage der Minijobber, also jener, die nur auf 450-Euro-Basis arbeiten. Denn Unternehmen können sie gar nicht erst in Kurzarbeit schicken, sodass oft nur die Kündigung bleibt. „Gerade Geringverdienern droht der Stellenverlust und damit der Wegfall ihres Einkommens“, sagt IfW-Experte Klaus Schrader.
Bei Geringverdienern wird das Kurzarbeiter oft nicht aufstockt
Dabei gibt es auch bei der Kurzarbeit Unterschiede: Während Industriebetriebe das Kurzarbeitergeld nämlich meist freiwillig aufstocken, ist das vielen Dienstleistern nicht möglich. Sie sind schon froh, wenn sie die Jobs erhalten können, die Mitarbeiter nicht entlassen müssen. Auch das trifft vor allem Geringverdiener. Lediglich bei 21 Prozent der Arbeitnehmer, die über ein Haushaltseinkommen von weniger als 1500 Euro netto im Monat verfügen, legt das Unternehmen derzeit noch etwas auf das Kurzarbeitergeld oben drauf. Bei Personen, die über 4500 Euro netto verfügen können, trifft das immerhin auf 39 Prozent zu. Das zeigt eine Umfrage, die die Hans-Böckler-Stiftung in Auftrag gegeben hat.
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Für die Betroffenen hat das gravierende Folgen. Maximal drei Monate könnten sie das finanziell durchhalten, sagen 40 Prozent derjenigen, die in Kurzarbeit sind und keine Aufstockung bekommen. „Bestimmte gesellschaftliche Gruppen sind vor den Auswirkungen der Krise schlechter geschützt als andere“, meint Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Sie glaubt, dass das „negative Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft“ haben kann.
Bei den Vermögen klaffte schon vor Corona eine große Lücke
Problematisch ist diese Entwicklung, weil die Ungleichheit in Deutschland schon vor Ausbruch der Pandemie groß war. Zwar haben sich die Einkommen zuletzt nicht weiter auseinander entwickelt, wie die Daten des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zeigen. Selbst die untersten Einkommen sind seit 2015 gestiegen, wodurch sich die Einkommensungleichheit stabilisiert hat. Gleichzeitig aber klafft beim Vermögen eine extrem große Lücke: Den reichsten zehn Prozent der Deutschen gehören 56 Prozent des Vermögens, während die untere Hälfte der Bevölkerung gerade einmal auf 1,3 Prozent kommt. So groß ist die Vermögensungleichheit in kaum einem anderen Land der Eurozone.
Dabei spielt gerade das Vermögen in dieser Krise eine besondere Rolle. Wer ein Auto hat, ist nicht zwangsläufig auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Wer Rücklagen hat, kommt mit Kurzarbeit oder gar Jobverlust eher klar als jemand, bei dem das Geld schon vorher stets knapp war.
Reiche können die Krise aussitzen
Verlässliche Zahlen, ob die Coronakrise die Ungleichheit bei den Vermögen vergrößert, wird es erst in der Rückschau in ein paar Jahren geben. Dennoch haben sich einige Forscher schon jetzt darüber Gedanken gemacht. Einer von ihnen ist Oliver Hümbelin, Ungleichsforscher an der Fachhochschule Bern in der Schweiz. Zwar spürten auch Reiche die Krise, etwa weil der Kursrutsch an der Börse einen Teil ihres Vermögens vernichtet. „Doch Reiche können eine solche Krise aussitzen“, sagt Hümbelin. Und in der Vergangenheit haben sich die Aktienkurse langfristig stets erholt.
Miriam Rehm, die an der Universität Duisburg-Essen zur Ungleichheit forscht, glaubt zudem, dass der Crash am Aktienmarkt nur wenig Auswirkungen auf das Gesamtbild haben dürfte. „Entscheidend ist die Höhe der Ungleichheit bei den Vermögen“, sagt sie. „In Deutschland sind die Vermögen so ungleich verteilt, dass die Krise die Vermögen der Reichsten extrem stark treffen müsste, um die Vermögensungleichheit nachhaltig zu reduzieren.“
Auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nimmt zu
Gleichzeitig aber haben sich für viele Menschen die Lebensumstände verändert. Rehm sieht dabei vor allem die Frauen im Nachteil, die zusätzlich zum Job nun vielfach auch noch die Kinderbetreuung und das Homeschooling übernehmen. Und das trifft alle – nicht nur Geringverdiener. „Erste Daten zeigen zum Beispiel, dass Wissenschaftlerinnen derzeit weniger Aufsätze und Forschungsergebnisse publizieren als vor der Coronakrise“, sagt Rehm. So nimmt derzeit auch die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu, und das über alle Einkommensgruppen hinweg.
Ebenso groß sind die Unterschiede bei den Unternehmern. Während die einen auf Hilfskredite angewiesen sind, machen andere das große Geschäft. Ein Extrem-Beispiel ist dabei Jeff Bezos, Chef des Onlineversandhändlers Amazon: Er ist durch die Coronakrise seit Jahresbeginn um 23,6 Milliarden Dollar reicher geworden.
Forderungen nach einer Vermögenssteuer werden lauter
Nachrichten wie diese befeuern die Debatte um eine Vermögenssteuer, wie sie unter anderem SPD-Chefin Saskia Esken ins Spiel gebracht hat. Ungleichsforscherin Rehm kann diesem Vorschlag etwas abgewinnen. „Das ist eine gute Möglichkeit, nach der Krise die Kosten je nach Leistungsfähigkeit zu verteilen“, sagt sie. Außerdem könne der Staat auf diese Weise Einnahmen generieren, ohne erneut die Wirtschaft zu belasten. Gegner argumentieren hingegen, dass das vor allem Unternehmer treffen könnte. Und dass es Reiche animieren würde, ihr Geld ins Ausland zu schaffen.
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DIW-Forscher Stefan Bach regt deshalb eine einmalige Vermögensabgabe an. Dabei würde einmal festgestellt, wer wie viel leisten muss – abbezahlen könnten die Vermögenden sie dann über einen längeren Zeitraum. „Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man mit einer solchen Vermögensabgabe gute Erfahrungen gemacht“, sagt Bach. Er schlägt vor, dass diese Abgabe das reichste Prozent der Deutschen zahlen sollte. Das wären jene, die abzüglich der Schulden mehr als 1,2 Millionen Euro pro Person zur Verfügung haben. In Deutschland träfe das 400.000 Haushalte. Zusätzlich vorstellen kann sich Bach auch noch einen Corona–Soli, den die reichsten fünf Prozent zahlen sollten – befristet für fünf bis zehn Jahre.
Mehrwertsteuersenkung für Lebensmittel könnte Geringverdienern helfen
Bleibt die Frage, wie man auf der anderen Seite die Geringverdiener entlasten kann. Die SPD setzt sich zum Beispiel dafür ein, den Soli für die breite Masse bereits in diesem Jahr statt im nächsten abzuschaffen. Gerade Geringverdienern bringt das nach Ansicht von DIW-Forscher Bach allerdings nur wenig. Denn bei geringen Einkommen fällt der Soli kaum ins Gewicht, zudem gibt es Freigrenzen.
Vorstellen kann sich Bach da schon eher eine Senkung der Mehrwertsteuer für Lebensmittel – zum Beispiel auf fünf Prozent. Davon könnten gerade Geringverdiener profitieren, meint Bach. Denn es entlastet all jene, bei denen selbst der wöchentliche Großeinkauf finanziell nicht immer drin ist. Jene, die die Krise jetzt besonders hart trifft.
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