Historisch hohe Ungleichheit: Warum Arbeit nicht mehr vor Armut schützt
Trotz Aufschwung sind Einkommen ungleich verteilt wie lange nicht. In Großstädten ist das Armutsrisiko besonders hoch. Auch Zuwanderung spielt eine Rolle.
Vom Aufschwung der vergangenen Jahre haben vor allem die Menschen profitiert, die ohnehin viel verdienen. Die Ärmsten haben weniger. Zu dieser Kernaussage kommt eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Autoren sprechen von einem signifikanten "Anstieg der Einkommensungleichheit in Deutschland, der für das Jahr 2016 seinen bisherigen Höchststand seit der Wiedervereinigung erreicht".
Zunächst einmal sind die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte - also um die Inflation bereinigt - von 1991 bis 2016 um fast ein Fünftel gestiegen. Neuere Vergleichsdaten gibt es nicht. Für den einzelnen Haushalt sieht die Situation jedoch ganz unterschiedlich aus: Das obere Zehntel steigerte sein Einkommen um 35 Prozent. In der Mitte fiel das Plus von acht bis 19 Prozent deutlich geringer aus. Bei dem Zehntel, das am wenigsten verdiente, sank das Einkommen sogar um acht Prozent – trotz der guten konjunkturellen Lage und der niedrigen Arbeitslosigkeit.
Eine Erklärung dafür könnte aus Sicht der Autoren die starke Zuwanderung in den vergangenen Jahren sein. Die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer hat sich laut DIW seit 2010 um mehr als drei Millionen auf zehn Millionen im Jahr 2016 erhöht. Migrantinnen und Migranten würden in den ersten Jahren oftmals nur ein niedriges Einkommen erzielen.
Die Menschen sind mit Einkommen zufrieden wie nie
Für ihre Studie hatten die DIW-Forscher das sozioökonomische Panel ausgewertet. Dabei werden jedes Jahr rund 45.000 Menschen unter anderem nach ihrer finanziellen Situation befragt. Die Daten zeigen, dass die Deutschen diesbezüglich im Vergleich zu 2007 und 1997 sehr viel zufriedener sind. Selbst die Menschen am unteren Rand seien gelassener als in den Neunzigern. Fast 40 Prozent sagen, sie hätten „keine Sorgen“ – so einen Wert hat Deutschland nicht mal in den 90er-Jahren erreicht. Nur noch 15 Prozent machen sich „große Sorgen“, wie Markus Grabka, Jan Goebel und Stefan Liebig erfragt haben.
Dies könnte nach Einschätzung der Autoren ebenfalls an der Zuwanderung liegen: Die eigene Zufriedenheit messe man oft am Vergleich mit anderen. Migranten könnten auf Menschen in ihren Herkunftsländern schauen, denen es noch schlechter geht als ihnen. Trotz der generell positiven Wahrnehmung meint fast die Hälfte der deutschen Gesellschaft: Mein Nettoverdienst ist zu wenig.
Arbeit allein bietet keinen umfassenden Schutz mehr vor Armut. Auch zu diesem Schluss kommt das Wirtschaftsinstitut. Das DIW hat eine "Niedrigeinkommensquote" berechnet, die den Anteil jener Haushalte meint, denen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung stehen - also jenes Einkommens, das genau in der Mitte liegt, wenn man die Summe aller Haushalte in zwei Hälften teilt. Diese Kennzahl wird häufig auch als Armutsrisikoquote bezeichnet. Die Daten des DIW zeigen: Seit der Jahrtausendwende steigt dieser Indikator nicht nur für Haushalte ohne Erwerbstätige, also auch Arbeitslose. Er steigt auch in Haushalten mit einem Verdiener. Ihr Armutsrisiko hat sich seit den 90er Jahren von 15 auf 30 Prozent verdoppelt.
Soziale Probleme verschärfen sich in Städten
Wovor die Wissenschaftler noch warnen, ist die problematische Entwicklung in den Großstädten. Dort nahm das ohnehin gestiegene Armutsrisiko noch stärker zu als auf dem Land. Diese Entwicklung sei vor dem Hintergrund der steigenden Mietkosten "besorgniserregend". Die Politiker sollten sich zügig um den Bau von bezahlbarem Wohnraum kümmern, "um Armut bei einkommensschwachen Personen zu vermeiden", fordern die Autoren.
DIW-Chef Marcel Fratzscher sieht den Wohnungsmarkt als Beleg für „Exzesse“ in der Sozialen Marktwirtschaft. Außerdem monierte Fratzscher am Wochenende den ungewöhnlich großen Niedriglohnbereich in Deutschland. „Es gibt ein zunehmendes Armutsrisiko - trotz Wirtschaftsbooms in den vergangenen Jahren. Das ist ein Widerspruch.“ Der Aufschwung sei bei vielen nicht angekommen, die soziale Komponente der Sozialen Marktwirtschaft vernachlässigt worden. Er fordert: „Wir brauchen mehr Chancengleichheit. Wir müssen dafür sorgen, dass wieder mehr Arbeitsverträge mit Tarifverträgen abgeschlossen werden. Das Steuersystem muss grundlegend reformiert werden. Einkommen auf Arbeit in Deutschland werden ungewöhnlich stark besteuert - Einkommen auf Vermögen dagegen ungewöhnlich gering.“
Auch aus der Politik gab es Reaktionen auf die DIW-Studie. „Wenn immer mehr Menschen trotz Arbeit zu wenig Einkommen zum Leben haben, dann läuft etwas gewaltig schief“, kritisiert Beate Müller-Gemmeke von den Grünen. „Prekäre Beschäftigung muss dringend zurückgedrängt werden. Wir brauchen eine Normalisierung der Arbeitsverhältnisse“, sagt sie. Die SPD kritisierte ebenfalls, dass das Wirtschaftswachstum gerade denjenigen, die ohnehin schon wenig haben, am wenigsten zugute komme. „Deshalb ist Umverteilung von oben nach unten das Gebot der Stunde“, meinte Kerstin Tack, Sprecherin der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales. Notwendig sei unter anderem eine Grundrente, „die ihren Namen auch verdient“ – und ein höherer Mindestlohn.
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