Interview: "Wachstum nützt der Moral"
Harvard-Ökonom Benjamin Friedman macht sich wegen der Wirtschaftskrise Sorgen um Toleranz und Fairness.
Herr Friedman, wir im Westen haben Autos, Kühlschränke, iPods. Wozu brauchen wir noch Wachstum?
Weil es beim Wirtschaftswachstum nicht nur um das Materielle geht. Es gibt auch eine soziale, moralische und politische Dimension. Wenn die Leute sehen, dass sich ihr Lebensstandard mit der Zeit verbessert, gibt es auch Fortschritte bei Werten wie Fairness, Großzügigkeit, Toleranz, Demokratieverständnis. Glauben die Bürger dagegen über eine längere Zeit, dass sie nicht vorankommen, entwickelt sich die Gesellschaft zurück, die Leute werden skeptisch und schotten sich ab. Das zeigt die historische Erfahrung in vielen Ländern, auch und gerade in Deutschland.
Wenn das stimmt, stehen wir angesichts der Rezession vor unruhigen Zeiten.
Es gibt Anlass zur Sorge, in Amerika und in Deutschland. Schon seit Beginn dieses Jahrzehnts hat ein großer Teil der Bevölkerung nicht wirklich vom Aufschwung profitiert. Jetzt haben die Leute sogar Einbußen. Und es gibt Grund zur Annahme, dass das Wachstum für mehrere Jahre sehr gering sein wird. Diese lange Stagnation kann zu sehr unbequemen Dingen führen.
Was befürchten Sie? Müssen wir mit sozialen Unruhen rechnen?
Die Haltung zu Ausländern ist in den USA wie in Deutschland ein sensibles Thema. Historisch gesehen hatten es Einwanderer immer leichter, wenn das Pro- Kopf-Einkommen stieg. Treten die Leute indes wirtschaftlich auf der Stelle, empfinden sie Ausländer stärker als Bedrohung, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, sie werden intolerant.
Muss es also das oberste Ziel einer Regierung sein, für mehr Wachstum zu sorgen?
Es bedeutet, dass Wachstum über mehr entscheidet als über Wohlstand und Lebensqualität. Oft geht es bei dem Thema nur um die vermeintlichen Schattenseiten, um Industrialisierung, Globalisierung, Umweltverschmutzung. Ich sage: Wachstum nützt nicht nur dem Portemonnaie, sondern auch der Moral. Allerdings nur, wenn der steigende Wohlstand auch einer breiten Masse von Menschen zugute kommt.
Sie sagen, die Ungleichheit in Amerika und Deutschland nimmt zu. Was würden Sie der neuen Bundesregierung raten?
Es ist sehr wichtig, dass Wachstum bei der Masse der Menschen ankommt. Otto Normalverbraucher muss das Gefühl haben, dass es voran geht. Von 2000 bis 2007 ist es das Bruttoinlandsprodukt in den USA im Schnitt um 2,5 Prozent pro Jahr gewachsen. Es kam aber nur einer kleinen Schicht von Leuten zugute, die ohnehin schon begütert waren. Und eben nicht der Mehrheit der Bürger. Man kann aber nicht ständiges Wachstum erreichen nur durch Umverteilung. Deshalb geht es um Bildung und Ausbildung, nur damit verändert man langfristig etwas.
Raten Sie zu Umverteilung: höhere Steuern für Reiche, mehr Geld für die Armen?
Nein. Zusätzliche Umverteilung bringt uns nichts. Das wird keinen Effekt haben. Ich beschäftige mich mit 10- oder 20-Jahres-Zeiträumen, mit Generationen. Mehr Umverteilung ist oft nur ein Wimpernschlag.
Würde ein Mindestlohn etwas bringen?
Ich weiß nicht, dazu kenne ich Ihr Land nicht gut genug. Ich fände es gut, wenn in den USA der Mindestlohn höher wäre. Aber für das Wachstum wäre das kaum relevant – schließlich verdienen nur wenige Leute auf dem Level. Es geht um die breite Masse. Es geht nicht um die ärmsten oder reichsten 10 Prozent, es geht um die bis zu 80 Prozent dazwischen.
Viele in Deutschland geben dem Kapitalismus die Schuld an der Krise. Eine Regierung, die das Wachstum über alles andere stellt, dürfte derzeit wenig populär sein.
Nicht der Kapitalismus ist verantwortlich für die Krise, sondern unregulierte Finanzmärkte. Sie haben die Tendenz zu Exzessen. Der Schlüssel zu Wachstum ist genügend Regulierung, die dafür sorgt, dass so etwas nicht wieder geschieht. Übrigens erleben die USA gerade den ersten ernsthaften Abschwung seit 1981/82. Damals lag es an Inflation und Ölpreisen. Die Botschaft ist: Die Abkehr von Finanzmarktregulierung seit den Achtzigern war kontraproduktiv. Wir müssen zurückkehren zu Standards, die wir in den vergangenen Jahren abgeschafft haben.
Schaden sie dem Wachstum?
Das glaube ich nicht. In den 50er und 60er Jahren, als es striktere Regeln gab, hatten wir kein Problem mit dem Wachstum. Deshalb sollte man dazu zurückkehren. Es geht auch nicht nur um Gesetze, es geht auch darum, wie die Menschen damit umgehen. Wenn man einen Anti-Regulierungspräsidenten hat, der Anti-Regulierungsmenschen an die Spitze von Institutionen setzen, die die Regulierung verschärfen sollen, bringt das nicht sehr viel.
Wachstum führt zu mehr Ressourcenverbrauch. Können wir das vernachlässigen, weil Wachstum gut ist für die Demokratie?
Nein. Die Frage ist nur, wie halten wir Wasser und Luft besser sauber – mit mehr Wachstum oder mit weniger? Die schlimmste Umweltverschmutzung gibt es dort, wo es lange Zeit wirtschaftlich nicht genügend voranging. Die Luft in Peking ist schrecklich, ebenso in Mumbai. In reichen Ländern ist die Luft besser. In Deutschland haben die Autos Katalysatoren, in Indien gibt es so etwas noch nicht einmal.
Kann die Erde es verkraften, wenn jedes Land nach Wachstum und nach westlichem Lebensstandard strebt?
Davon sind wir noch weit entfernt. Auch wenn Indien noch Jahre wächst, hat längst nicht jeder Inder ein Auto. Zudem ist der technische Fortschritt rasant, wer weiß schon, wie Autos in 50 Jahren aussehen werden, was sie antreibt. Die Industrie treibt die Abscheidung von Kohlendioxid aus den Abgasen voran, bei der Solartechnik gibt es Fortschritte. Alles aber nur, weil es Wachstum gibt.
Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Berliner Rede gesagt, permanentes Wachstum sei womöglich nicht die Antwort auf alle Fragen. Hat er Recht?
Ich kenne die Rede nicht. Aber ich denke, das Gegenteil ist richtig. Andauerndes Wachstum ist die Antwort auf viele Fragen. Vor allem, wenn es um Ungleichheit geht. Globalisierung und das damit verbundene Wachstum waren für die meisten Länder eine gute Sache. Nicht von ihr profitiert haben Länder, die nicht teilnehmen wollten – Nordkorea, Kuba, Birma. Oder die nicht teilnehmen konnten – weil ihre Agrarprodukte gegen die hoch subventionierte Konkurrenz aus Amerika und Europa keine Chance hatte. Um die Lücke zwischen armen und reichen Staaten zu schließen braucht es mehr Globalisierung, nicht weniger, mehr Teilnahme am Welthandel, nicht weniger.
Wenn es stimmt, was Sie sagen, dass also Wachstum moralischen Fortschritt bringt – was bedeutet die Krise dann für Schwellenländern wie China oder Indonesien?
Ich war erst vor zwei Monaten in China. In den vergangenen 30 Jahren hat sich das Land nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich enorm gewandelt. Es gibt mehr Meinungsfreiheit, und durch die Liberalisierung spielt der Staat eine andere Rolle. Wenn die Chinesen ihre Wachstumsraten der vergangenen 25 Jahre halten könnten, bin ich optimistisch, dass sie sich zu einem stärker demokratisch geprägten Staat entwickeln. Nur: Angesichts der Krise glaube ich nicht, dass sie das können. Mehr Demokratie können wir daher vorerst kaum erwarten.
Das Interview führte C. Brönstrup
ZUR PERSON
DER FORSCHER
Der Ökonom Benjamin Friedman, der gerade bei der American Academy in Berlin zu Gast war, hat in Harvard studiert und auch promoviert. Seit 1972 lehrt er in der amerikanischen Eliteuniversität. Davor war er bei der Investmentbank Morgan Stanley. Er berät politische Institutionen und ist Mitglied im zwölfköpfigen Beirat der Encyclopedia Britannica.
SEIN WERK
Friedman hat neben vielen Artikeln eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter „Day of Reckoning“, das die Folgen der Wirtschaftspolitik von US-Präsident Ronald Reagan beleuchtet. Sein jüngstes Buch „The Moral Consequences of Economic Growth“ beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Wirtschaftswachstum und Moral.
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