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Keine Zeit zum Rasten. In der Tokioter Innenstadt geht es hektisch zu. Im Alltagsleben der Japaner auch: Das oberste Gebot ist es, zu funktionieren.
© Reuters

Hohe Belastung: Viele Japaner bringen sich wegen Druck im Job um

Bis es nicht mehr geht: Japan hat eine der höchsten Suizidraten der Welt. Meist ist Druck im Beruf der Grund – Präventionsinitiativen wollen nun helfen.

Chikashi Negishis Arbeitstag beginnt im dichten Tokioter Verkehr, auf einem Klapprad mit drei Gängen. Während sich Millionen Städter in die U- und S-Bahnen drängen, um zur Arbeit zu kommen, auf der Fahrt in ihre Smartphones starren, E-Mails checken, Nachrichten lesen, tritt Chikashi Negishi einfach nur in die Pedalen. Das, sagt er, sei seine Form der Work-Life-Balance. Negishi weiß, wie wichtig es ist, nicht nur zu arbeiten; sein Job ist es, überarbeitete Japaner vom Selbstmord abzuhalten. Negishi ist Vizepräsident von Life Link, einer Organisation, die sich für Suizidprävention einsetzt. Weltweit gehört Japan zu den Ländern mit der höchsten Suizidrate. Ursache dafür ist vor allem das hohe Arbeitspensum.

Die Freitode häufen sich zum Monatsende - wenn das Soll im Büro erfüllt ist

Chikashi Negishi arbeitet selbst zu viel, viel zu viel, wie er sagt. Müde sehe er aus, sagt seine Kollegin zu ihm. Einen Gang runterschalten könne er aber nicht, nicht jetzt, in der Notfallphase.Im Frühjahr, nach Abschluss des Geschäftsjahres, brachten sich täglich 80 bis 90 Leute um, der Stress hält noch immer an. Japan ist wahrscheinlich das einzige Land, das ein Wort für Selbstmord wegen Überarbeitung kennt: karo jisatsu. Und wie alles in Japan wird auch diese Handlung geplant: Die Suizide häufen sich am Monatsende, wenn die Pflichten im Job erfüllt sind.

2000 Stunden darf ein japanischer Arbeitnehmer arbeiten – so sieht es das Gesetz vor. Umgerechnet sind das 40 Stunden die Woche, acht Stunden am Tag – das ganze Jahr. Zehn Tage Urlaub sind drin, mehr als 20 Tage nicht erlaubt. Viele Japaner arbeiten jedoch wesentlich mehr: Der Durchschnitt, das ergab eine Umfrage, liegt bei 2500 Arbeitsstunden jährlich, ein Sechstel der Befragten gaben sogar an, 3100 Stunden pro Jahr zu arbeiten. Zum Vergleich: Die Deutschen arbeiteten 2011 durchschnittlich 1330 Stunden.

Negishis Arbeitsplatz ist ein kleines Büro im fünften Stock, sein Klapprad parkt vor dem engen Fahrstuhl. Ein großes Zimmer, blauer Teppichboden, eine winzige Kaffeeküche. Im Büro trägt Negishi Gesundheitsschuhe aus Gummi. Sitzt er am Schreibtisch, streift er sie ab und lässt seine Füße über einen Massageroller gleiten. In den Regalen, die wegen der Erdbeben mit Schraubstöcken an der Decke befestigt sind, stehen blaue und gelbe Aktenordner, daneben Bücher, die Titel wie „Happier“ („Glücklicher“), „How to solve it“ („Wie man es löst“) oder „Being and time“ („Sein und Zeit“) tragen. Negishi teilt sich das Büro mit drei anderen Mitarbeitern, schweigend klicken die sich durch ungelesene Mails und trinken dünnen Eiskaffee mit viel Süßstoff.

Das Bewusstsein der Firmen für die Nöte ihrer Mitarbeiter ist gering

Negishi ist 34 Jahre alt, er sieht älter aus, kaum Körperspannung, ein müder Blick. Die meiste Zeit ist er bei Life Link, darüber hinaus arbeitet er drei bis vier Mal die Woche bei einer Hotline, bei der Suizidgefährdete und deren Angehörige anrufen können. Dass sich die Leute trauen, ist neu – und zu großen Teilen der Aufklärungsarbeit von Life Link zu verdanken. Sich das Leben zu nehmen, gilt als Schande. Betroffene sprechen meist nicht über ihre Ängste, Angehörige nicht über das, was ihnen widerfahren ist. Das Schweigen soll die Scham lindern. Negishi hat auch lange geschwiegen, nachdem sich sein Vater das Leben genommen hatte, damals war er acht Jahre alt. Erst später begann er zu sprechen – und andere zu ermutigen, es auch zu tun. Jedesmal, wenn er heute am Telefon der Hotline sitzt, hört er Geschichten, die sich anhören wie die seiner Familie.

Japan ist ein Land, in dem alles funktioniert, ein reibungslos laufender Motor. Jeder Japaner muss seinen Teil dazu beitragen, das lernt er schon früh in der Schule. Obwohl japanische Männer gesetzlich nur dazu verpflichtet sind, bis 65 zu arbeiten, liegt das Renteneintrittsalter im Schnitt bei 69,7 Jahren. Lange Zeit boomte die Wirtschaft im Land. Dann, Anfang der 90er-Jahre, kam eine Finanzkrise, wie sie Japan noch nicht erlebt hatte. In den Jahren danach sanken die Börsenwerte um rund 85 Prozent, die einst so leistungsstarke Ökonomie schwächelte. Zwischen 1994 und 1997 gingen mehr als 20 japanische Geldhäuser pleite, Höhepunkt war das Aus des ehrwürdigen Wertpapierhauses Yamaichi Securities. In den neunziger Jahren durchlief Japan eine lang andauernde Rezession, die die Japaner selbst als „verlorenes Jahrzehnt“ bezeichnen.

Mit dem Höhepunkt der Bankenpleite 1997 stieg die Arbeitslosenquote im Mai 1998 erstmals auf 4,3 Prozent. In der Folge nahm auch die Suizidrate drastisch zu – und ist seither konstant hoch geblieben. Mehr als 30 000 Japaner nehmen sich jährlich das Leben. Nach der Lehman-Brothers-Pleite im September 2008 erreichte die Selbstmordrate erneut einen Höchstwert. Ein zusätzlicher Grund ist die Lebensversicherung. Die meisten Japaner haben eine, im Todesfall bekommt die Familie das Geld ausgezahlt.

Der Staat sieht die Problematik

Die japanische Gesellschaft arbeitet hart, der Lohn ist ein hoher Lebensstandard. Japan bedeutet Konsum, Lifestyle, Unterhaltung. Alles ist neu in diesem Land: HD-Bildschirme, Smartphones, Turnschuhe. Chikashi Negishi sagt: „Die japanische Gesellschaft muss sich ändern.“ Sie solle runterfahren, den Lebensstandard senken. Weniger konsumieren, weniger wollen, weniger arbeiten. Dann würden auch weniger Menschen Selbstmord begehen. Das aber, sagt er noch, wolle keiner hören.

In Europa ist der Begriff Burnout längst in den Unternehmen angekommen. Für die Mitarbeiter gibt es Entspannungsräume, Yogakurse und autogenes Training. In Japan dagegen, kritisiert Negishi, kümmerten sich Firmen zu wenig um ihre Angestellten. Die Folge sind Geschichten wie die, dass ein junger Mann Selbstmord begeht, weil er sich im neuen Job unwohl fühlt – aber weder die Abteilung wechseln noch eine Auszeit nehmen darf. Männer um die 30 sind in Japan am meisten gefährdet. Life Link hat versucht, ein Muster im Selbsttötungsverhalten der japanischen Gesellschaft zu finden.

Chikashi Negishi und seine Kollegen haben mit mehr als 500 Familien gesprochen, deren Angehörige sich das Leben genommen haben. Aus den Interviews, die sie gemeinsam mit Psychologen ausgewertet haben, ist ein Datenreport entstanden, der jährlich aktualisiert wird. Gefühle wie Schande und Scham, festgehalten in Zahlen und auf Papier. 2006 erließ das japanische Parlament, angeregt von Life Link, ein Gesetz zur Suizidprävention. Programme wie die Telefon-Hotline werden seitdem staatlich gefördert.

Die Arbeit, sagt Negishi, mache ihn müde. Aber auch zufrieden. „Im Mai haben sich weniger Menschen umgebracht als im Mai vergangenen Jahres.“ Gemessen an den Zahlen ist es ein kleiner Erfolg, für die Familien, die er gerettet hat, ist er unermesslich. Die Gesellschaft und ihre hohen Ansprüche wird Chikashi Negishi nicht ändern, doch einigen Menschen kann er helfen, indem er ihnen zuhört.

Jana Gioia Baurmann

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