Fachkräftezuwanderungsgesetz: Unternehmen sind über Koalitionsstreit verärgert
Die Große Koalition streitet erneut über das Einwanderungsgesetz. Dabei brauchen Firmen dringend mehr Fachkräfte – auch aus dem Ausland.
Sie fehlen auf Baustellen, in Pflegeheimen, Industriehallen, vor Computerbildschirmen. So sehr, dass fast die Hälfte der deutschen Unternehmen ihre offenen Stellen über einen langen Zeitraum nicht besetzen kann. Etliche Branchen waren deswegen erleichtert, als die Bundesregierung Ende des letzten Jahres das erste Einwanderungsgesetz in der Geschichte der Republik beschlossen hat. Umso verärgerter sind sie jetzt. Weil das Vorhaben wieder stockt.
Im Kern geht es beim Einwanderungsgesetz um zwei Themen: Erstens soll es Nicht-EU-Ausländern mit einer Berufsausbildungleichter gemacht werden, hier zu arbeiten. Bislang standen nur Akademiker im Fokus. Zweitens sollen abgelehnte, aber geduldete und gut integrierte Ausländer für 30 Monate eine Beschäftigungserlaubnis bekommen.
Eigentlich sollte das Gesetz im März im Bundestag beraten werden. Auf Druck von Innenpolitikern der Union ist das Vorhaben jedoch vertagt worden. Der Grund: CDU und CSU wollen erst dann im Bundestag darüber beraten, wenn die SPD im Gegenzug ihren Widerstand gegen die geplanten Asylrechtsverschärfungen der CSU aufgibt. Innenminister Horst Seehofer möchte unter anderem Voraussetzungen für die Abschiebehaft erleichtern. Damit solle ein „Untertauchen“ von Ausreisepflichtigen kurz vor einer geplanten Abschiebung verhindert werden. In der SPD wurde angesichts dieser Verknüpfung von Erpressung gesprochen.
Für die Betriebe ist es enttäuschend
Mehrere Wirtschaftsbranchen sind ebenfalls verärgert. „Das untergräbt Vertrauen in die Politik“, sagt Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH). Er drängt auf eine schnelle Verabschiedung des Gesetzes und zwar in der vorliegenden Entwurfsfassung. Zu einer Verwässerung dürfe es auch deswegen nicht kommen, „weil das demotivierend und enttäuschend für unsere Betriebe wäre, die sich vorbildlich der schwierigen Integrationsaufgabe angenommen haben.“ Von allen Flüchtlingen, die hierzulande eine Ausbildung machen, lernt immerhin jeder Zweite im Handwerk. Aktuell seien es 18 000, sagte Wollseifer kürzlich dem Tagesspiegel. Dass in der Branche trotzdem insgesamt 250 000 Beschäftigte fehlen, die zum Teil aus dem Ausland kommen könnten, merken die Kunden längst. Wochenlang warten sie auf einen Termin.
Kritisch äußert sich auch Achim Dercks, der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags. Die Unternehmen bräuchten nach der zähen Diskussion im vergangenen Jahr endlich Rechts- und Planungssicherheit. Und nicht nur ihnen schade der erneute Koalitionsstreit. Es sei „letztlich auch eine Wachstumsbremse bei wichtigen Feldern wie Infrastrukturinvestitionen, Pflegedienstleistungen und Wohnungsbau“. Fehlende Klempner und Heizungsinstallateure bremsen nach Einschätzung der staatlichen Förderbank KfW den Bau neuer Häuser.
Neben Pflegern fehlen auch etliche IT-Spezialisten. Derzeit gibt es rund 82 000 offene Stellen. Das ist laut dem Digitalverband Bitkom ein Anstieg von 49 Prozent binnen eines Jahres. Den Unternehmen würden deswegen rund zehn Milliarden Euro Umsatz pro Jahr verloren gehen. „Wir brauchen die klügsten Köpfe aus aller Welt, um die Digitalisierung in Deutschland zu gestalten, unsere Wirtschaft zu unterstützen und den Arbeitsmarkt zu stärken“, sagt Christoph Busch vom Bitkom-Verband. Die technologische Veränderung praktisch aller Branchen werde dazu führen, dass die Nachfrage weiter steigen wird. Daher mahnt er: „Es ist dringend anzuraten, dass die Politik ihre selbst gesteckten Ziele einhält und das Fachkräfteeinwanderungsgesetz zügig verabschiedet.“
Aus seiner Sicht sollte es allerdings keine übertriebenen Anforderungen an Sprachkenntnisse stellen. Hintergrund ist: In der digitalen Wirtschaft arbeiten oft internationale Teams zusammen, die nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch miteinander sprechen. Die Verfahren sollten darüber hinaus vereinfacht werden und digital ablaufen. Über alle Branchen hinweg müssten laut der Bertelsmann-Studie bis 2060 Jahr für Jahr 260 000 Menschen nach Deutschland ziehen.
Zwei Bundesländer warten nicht länger
Was integrierte Flüchtlinge mit einem Arbeitsvertrag betrifft, warten zwei Bundesländer nicht länger auf den Bund. Nach Nordrhein-Westfalen ist Baden-Württemberg das zweite Land, das mit einer eigenen Regelung zu besseren Bleibemöglichkeiten der stockenden Gesetzgebung vorgreift – auch auf Druck der Wirtschaft hin. Eine Koalitions-Spitzenrunde um Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat am Mittwochabend Fortschritte, aber noch keinen Durchbruch erzielt. In Regierungskreisen war nach zweieinhalbstündigen Beratungen von guten Gesprächen“ die Rede. An dem Treffen im Kanzleramt hatten neben Merkel auch Innenminister Horst Seehofer (CSU), Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz, Arbeitsminister Hubertus Heil und Justizministerin Katarina Barley (alle SPD) sowie Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) teilgenommen. Details und konkrete Ergebnisse der nächtlichen Beratungen wurden nicht bekannt.
Vor den Gesprächen im Kanzleramt hatte die Union der SPD nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur eine Altfall-Regelung für abgelehnte Asylbewerber mit festem Job angeboten. Außerdem könnte die Beschäftigungsduldung schon früher als die übrigen Regeln zur Fachkräfteeinwanderung in Kraft treten, hieß es weiter. Damit geht der Vorschlag über die im Gesetzentwurf bisher vorgesehenen Möglichkeiten hinaus. In der SPD fand der Vorstoß zunächst aber nur ein verhaltenes Echo. Von der Altfall-Regelung sollen abgelehnte Asylbewerber profitieren, die 2015 bis 2017 nach Deutschland eingereist sind.
Marie Rövekamp