Werftenkrise: Schweißen und Tränen
Endlich ein Auftrag. Der erste seit zwei Jahren. Ein Spezialtanker soll in Wismar gebaut werden. Für die Werft könnte das die Rettung sein.
Wie Zwillinge liegen zwei Containerschiffe im Hafen von Wismar. Zwischen den letzten Resten von Eisschollen schwanken die stolzen Gefährte fest vertäut sachte auf und ab, eines neben dem anderen, beide schwarz und rostbraun gestrichen und beide mit dem Heck nach Norden ausgerichtet. Es sieht aus, als lägen sie in der Winterpause, als müssten nur noch die Maschinen angeschmissen werden, um sie in Fahrt zu setzen, hinaus von der Ostsee in die Welt.
In Wahrheit aber liegen die Schiffe dort, weil sie keiner braucht. Ein Reeder hatte sie bei der Werft in Wismar bestellt, konnte dann aber nicht mehr zahlen.
Viola und Jürgen Meier haben noch mitgebaut an den beiden Frachtern, haben geschweißt, so wie sie es seit Jahrzehnten getan haben. Im Juni 2009 schließlich erfuhren sie und ihre 2300 Kollegen an den Werftstandorten in Wismar und Rostock, dass der Kampf endgültig verloren war. Ihr Unternehmen meldete Insolvenz an.
Im zweiten Stock eines freudlosen Wismarer Verwaltungsbaus aus DDR-Standardplatte sitzt das Ehepaar Meier jetzt und wartet auf die nächste Versammlung der ehemaligen Betriebsräte. Sie haben ihre Anoraks angelassen, draußen weht ein kühler Ostseewind, und drinnen ist es auch nicht viel wärmer. Von dem karg eingerichteten Büro der „Transfergesellschaft Küste“ aus hat man eine gute Sicht hinüber zur großen Schiffshalle der früheren Wadan-Werft, die seit August 2009 Nordic Yards heißt. In der Gesellschaft wurden die ehemaligen Wadan-Arbeiter aufgefangen, um sie nicht sofort in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Sie erhalten dort Weiterbildungen und Kurzarbeitergeld. Zum 31. März sollte die Gesellschaft aufgelöst werden, aber die ehemaligen Werftarbeiter gaben nicht auf und forderten von der Landesregierung den Weiterbetrieb. Jetzt, da der neue Werfteigner Witaly Jussufow einen Auftrag an Land gezogen hat – den ersten für Wismar seit zwei Jahren – hat die Regierung eingelenkt. Sie verlängert die Gesellschaft bis Ende Juli.
Am 1. Juli will Jussufow mit dem Bau eines neuen Schiffs beginnen, eines Spezialtankers für den russischen Rohstoffkonzern Norilsk Nickel im Wert von 100 Millionen Euro. Und es könnte ja sein, dass dann doch wieder mehr Arbeiter gebraucht werden. Dass sie beide dazu gehören, glauben Viola und Jürgen Meier inzwischen allerdings nicht mehr.
Ein Zaun trennt sie von ihrem früheren Leben. Seit die Arbeit in der Wismarer Werft beinahe vollständig ruht, dürfen die beiden Schweißer, so wie die allermeisten ihrer Kollegen, nicht mehr hinein. Hellgrün und blau gestreift ragt die gut 70 Meter hohe Schiffshalle wie ein Ungetüm in den nassgrauen Himmel und versperrt auf einer Länge von 400 Metern den Blick auf die Bucht. Sie ist kaum zu übersehen hier in Wismar, der 45 000-Einwohner-Stadt mit ihrem liebevoll restaurierten Zentrum. In der Schiffshalle bauen noch etwa 600 ehemalige Kollegen zwei Fähren für die schwedische Stena Line fertig – im Auftrag des Insolvenzverwalters.
Es ist kein hoher Zaun, der die Grenze zwischen dem alten Leben und dem Heute bildet, ein normaler Maschendrahtzaun. Aber für Viola und Jürgen Meier scheint er seit jenem Tag im vergangenen Sommer unüberwindbar. „Wir haben einen Trauermarsch veranstaltet, bis zum Rathaus“, erinnert sich Meier an ihren letzten Arbeitstag, den 31. Juli 2009. Es war die letzte einer Reihe von Demonstrationen in diesem Schicksalsjahr, in dem der damalige Mehrheitseigentümer Andrej Burlakow keinen einzigen seiner massenhaft versprochenen Schiffbauaufträge an Land ziehen konnte und die Wirtschaftskrise die Werften schließlich ganz in die Knie zwang.
Die Arbeiter wollten nicht aufgeben, bis zuletzt gingen sie immer wieder auf die Straße oder verbarrikadierten sich auf dem Gelände, um für ihren Betrieb zu kämpfen, der mehr ist als nur ein Betrieb: der größte Arbeitgeber der Stadt in dem ohnehin strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern und nicht zuletzt für viele auch ihr halbes Leben. Auch für Viola Meier.
Als sie 16 Jahre alt ist, beginnt sie ihre Lehre als Schweißerin auf der Werft. Nicht, weil sie das unbedingt so will, sondern: „Es gab eben nichts anderes in Wismar.“ Die DDR teilte die Leute dort ein, wo sie gebraucht wurden. Am Anfang, erzählt sie, sei sie oft mit Tränen in den Augen nach Hause gegangen. Ein junges Mädchen in einer rauen Umgebung. Das schwere Gerät, der Lärm, der harte Umgangston. Sie heiratet, bekommt drei Kinder. Und sie schweißt, Tag für Tag. Schiffe für den „großen Bruder“. Die Werften in Wismar und Rostock beliefern zu DDR-Zeiten vor allem die sowjetische Handelsflotte. Als die Mauer fällt, beginnt die Zeit der Unsicherheit. Wie oft sie Angst hatte, ihre Arbeit zu verlieren? „Eigentlich immer“, sagt Viola Meier und schaut kurz aus dem Fenster, als wollte sie sich vergewissern, ob die Werft noch da ist.
6000 Menschen haben nach der Wende auf der Werft gearbeitet – heute sind es noch zehn Prozent davon. Die erste Krise kam in den frühen 90ern. Die Anlagen auf der ehemaligen VEB Mathias-Thesen- Werft (MTW) waren veraltet, nicht mehr konkurrenzfähig, die Arbeit nicht effizient genug – es drohte das Aus für den Werftenstandort Wismar. Meier und ihre Kollegen lernen, um ihre Arbeit zu kämpfen. Zu stolz sind sie auf das, was sie leisten, auf jedes Schiff, das die Werft verlässt. „Wenn so ein Schiff vom Stapel gelassen wird, dann ist das wie eine Geburt“, sagt Viola Meier.
Gemeinsam mit anderen besetzt sie 1992 die Werft, sie schweißen die Tore von innen zu, verbarrikadieren sich im Betrieb. Die Proteste haben Erfolg. Wie einen Retter feiern die Arbeiter die Bremer Vulkan, die damals größte deutsche Werftengruppe, die auch die marode MTW übernimmt, die inzwischen als Meerestechnik Werft Wismar firmiert. Der Westkonzern saniert die Wismarer Werft, neue Schiffe werden gebaut. Alles sieht gut aus – bis der Verdacht aufkommt, dass die Vulkan-Manager 700 Millionen Mark aus den EU-Fördertöpfen nicht in die ostdeutschen Werften investieren, sondern damit illegal die Finanzlöcher in der Bremer Konzernkasse stopfen. Am Ende geht die Bremer Vulkan in Konkurs, die ostdeutschen Schiffbaubetriebe aber überleben.
Die Wismarer Werft gehört nach der Sanierung zu den modernsten weltweit und findet schnell einen neuen Eigentümer. Viola Meier schweißt von 1998 an für die norwegische Aker-Gruppe. In der Werft kümmert sie sich als Betriebsrätin um Belange der Mitarbeiter, zu Hause geht ihre Ehe in die Brüche. Dann lernt sie Jürgen Meier kennen, der als Schweißer in ihre Abteilung versetzt wird.
Im Jahr 2002 führt die norwegische Aker-Gruppe die Werften in Wismar und Rostock zusammen. Arbeit gibt es genug. Trotz steigender Stahlpreise. Das Ostasiengeschäft boomt, verlangt nach neuen Frachtkapazitäten. „In manchen Jahren haben wir 15 Containerschiffe vom Stapel gelassen“, sagt Jürgen Meier. Auch Aufträge für Kreuzfahrtschiffe ziehen die Eigner aus Norwegen an Land. Schiffe aus der Aida-Reihe oder die Columbus tragen irgendwo in ihrem massigen Körper Nähte, die von Viola und Jürgen Meier geschweißt wurden.
Doch die Fließbandarbeit hinterlässt Spuren. Trotz des wirtschaftlichen Erfolgs der Norweger verschlechtert sich die Atmosphäre unter den Kollegen. Der Leistungsdruck wächst, Wochenendarbeit wird die Regel. Die Aker-Gruppe habe das Letzte aus den Arbeitern herausgepresst, sagen die Meiers. Und immer wieder fallen Arbeitsplätze dem globalen Konkurrenzdruck zum Opfer. „Mit einem Fuß war man immer draußen“, erzählt Viola Meier.
Als sich 2008 die Wirtschaftskrise ankündigt, wollen die Norweger die Werften loswerden. Kurz bevor die Finanzmärkte kollabieren, kauft der Russe Andrej Burlakow die Werften in Wismar und Rostock für überteuerte 240 Millionen Euro. Noch sind die Orderbücher voll bis 2011. Dann gerät der Welthandel ins Stocken. Plötzlich braucht niemand mehr Containerschiffe. Es hagelt Stornierungen und die Frachter parken in den Häfen. Stillstand überall. Burlakow, der den Werftarbeitern in Wismar und Rostock mantraartig immer wieder neue Aufträge verspricht, bringt ihnen schließlich den Insolvenzverwalter ins Haus. Viola und Jürgen Meier haben einige Entlassungswellen überstanden – diese überstehen sie nicht.
Die Transfergesellschaft fängt sie auf. Sie soll dabei helfen, einen neuen Job zu finden. Doch in Wismar gibt es den für die allermeisten nicht.
Bis heute steckt der Schiffbau weltweit in einer tiefen Krise. „In den vergangenen 18 Monaten gab es kaum Bestellungen“, sagt Burkhard Lemper vom Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik in Bremen. 2009 wurden 180 von 560 Bestellungen für Containerschiffe weltweit storniert. Im vergangenen Jahr wurden nur zwei neue bestellt – weltweit. Und Deutschland leidet doppelt darunter. „Die Krise trifft den deutschen Schiffbau besonders hart, weil die Auftraggeber hierzulande nur zehn Prozent anzahlen müssen, in Asien sind es 20 bis 40 Prozent. Da ist es schnell klar, welche Aufträge sie stornieren“, sagt Lemper. Verheerend wirke sich jetzt aus, dass es die maritime Wirtschaft verpasst habe, früh genug auf den Spezialschiffbau umzulenken. Darin liege die Zukunft.
An dieser Zukunft will nun Witaly Jussufow mitbauen. Jussufow, geboren 1980, ist der neue starke Mann in den ehemaligen Wadan-Werften – „der zweite Russe“, wie ihn die Menschen hier nennen. Aus der Insolvenzmasse hat der Jungunternehmer die Werften für 40 Millionen Euro gekauft, ihnen den neuen Namen Nordic Yards gegeben.
Jussufow ist Absolvent des Staatsinstituts für Internationale Beziehungen in Moskau, er arbeitete unter anderem bei Gaz-Export, einer Tochter des russischen Gazprom-Konzerns, und leitete von 2006 an die Moskauer Niederlassung des Ostseepipeline-Konsortiums Nord Stream. Und er ist der Sohn des früheren russischen Energieministers Igor Jussufow. Was der Junior sagt, in der obersten Etage der Werftverwaltung in Wismar, in beinahe akzentfreiem Deutsch, klingt sorgfältig durchdacht. Mit seinen Beziehungen in höchste russische Kreise will er Aufträge aquirieren: Spezialtanker, eisbrechend, mit hoher Kapazität für die russische Öl- und Gasindustrie.
„Wir werden künftig deutlich weniger Produktionsstunden, aber deutlich mehr Entwicklungsstunden haben“, sagt Jussufow. Was er damit eigentlich meint: Für den Großteil der Werftarbeiter, die jetzt in den Transfergesellschaften sitzen, gibt es auch nach der Krise keinen Bedarf mehr. Denn Spezialschiffe sind maßgeschneiderte Fahrzeuge, an denen Entwickler und Kunden gemeinsam feilen. Was Jussufow vor allem braucht, sind Ingenieure, die in der Planung und Projektierung arbeiten. Der Unternehmer hat sich beim Kauf verpflichtet, mindestens 1200 Mitarbeiter weiter zu beschäftigen. Wenn es gut läuft, will er das Personal auf bis zu 1500 aufstocken. Doch die Spezialtanker sind teuer, kosten das Fünffache normaler Transportschiffe. Entsprechende Aufträge zu bekommen sei nicht das Problem, sagt Jussufow. Sie zu finanzieren, das ist die große Kunst in Zeiten, da Banken jeden Euro, den sie als Kredit geben sollen, umdrehen.
Viola Meier hat die Hoffnung aufgegeben. Sie glaubt nicht, dass sie auf die Werft zurückkehren wird. Einst dachte sie, sie würde dort alt werden. In eine andere Abteilung wechseln, wo es körperlich nicht so anstrengend ist und dann irgendwann in den Ruhestand. Sie ist jetzt 52 und wartet auf die Arbeitslosigkeit, etwas anderes als Schweißen hat sie nie gelernt.
Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 25.03.2010
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