Wirtschaft: Schultheiss-Areal in Moabit darf bebaut werden
Bezirksverordnete in Mitte verabschieden Bebauungsplan für umstrittenes Einkaufszentrum
In aller Stille beschlossen: Berlin bekommt ein neues Einkaufszentrum mitten in der Stadt, in Moabit. Im Karree zwischen Stromstraße, Perleberger Straße, Lübecker Straße und dem städtebaulichen Sorgenkind Turmstraße, in der einstigen Schultheiss-Braustätte, werden auf 20 000 qm ein großer Supermarkt, mehr als 60 Begleitgeschäfte, ein Fitnesscenter und ein Hotel mit Betten für 200 Berlin-Besucher gebaut. Die Ladestraße der Brauerei soll sich in eine Gastronomiegasse mit historischem Pflaster verwandeln, auf der die Besucher das Center durchqueren können. Die Parkflächen werden für 500 Autos reichen. 100 Millionen Euro soll das geplante Schultheiss-Quartier kosten.
Die Vorgeschichte zu diesem Projekt ist lang und geht über die olympische Distanz von vier Jahren. 2007 hatte das Unternehmen HLG aus Münster die ehemalige Moabiter Braustätte aus einer Insolvenzmasse erworben, um sie nach Art des Hauses umzubauen. Das heißt, zu einem modernen Einkaufzentrum zu machen. HLG ist spezialisiert auf Projekte dieser Art – man hat das A 10-Center in Wildau hochgezogen und beim neuen Einkaufszentrum am Tempelhofer Hafen bewiesen, dass man auch mit denkmalgeschützter Bausubstanz sorgsam umgehen kann. Dennoch, bis zum Ja für Moabit war es ein langer Weg.
Zum Schluss ging es dann flott, wie zum Beweis, dass man auch in Berlin „auf die elegante rheinische Art“ regieren kann: Das jahrelang von Anwohnern und Denkmalschützern, politisch von Links bis Grün heftig bekämpfte Projekt verschwand am 23. Juni von der Tagesordnung der Bezirksverordnetenversammlung Mitte von Berlin – auf diesen Termin hatten sich die Widerständler noch fixiert. Dann aber, in der letzten Sitzung am 15. September – drei Tage vor den Landtags- und Bezirkswahlen in Berlin – wollte keiner der Bezirksvertreter mehr die große Welle machen. Der vorhabenbezogene Bebauungsplan 1-43VE („ehemals Schultheiß“) ist beschlossen und abgehakt.
Der vorhabenbezogene Bebauungsplan ist eine Sonderregelung im Baurecht, die oft bei solchen Großprojekten herangezogen wird. Die Kommune schließt mit dem Investor Durchführungsverträge ab, die sehr viel präzisere Regelungen treffen können als ein normaler Bebauungsplan – und es gab Etliches zu regeln.
Die Anwohner in diesem Quartier hatten von Anfang an den Schattenwurf durch die geplanten Neubauten, den Lärm und die Abgase der an- und abfahrenden Autos reklamiert. Protest kam vor allem von den Anwohnern der Lübecker Straße. Hier wohnt man bislang sehr gediegenen und erstaunlich ruhig für Moabit, der Graffiti-Überzug an den Häusern hält sich in Grenzen. Der Gedanke, künftig Rücken an Rücken wohnen zu müssen mit einem Parkhaus und lebhafter Gastronomie, war eingeschlagen wie ein Blitz.
Die Entscheidung, die Planung letztlich an das Berliner Architektenbüro Kahlfeldt zu geben, war vernünftig. Petra und Paul Kahlfeldt liegt es, Bauten aus der großen Berliner Industriezeit in die Gegenwart zu führen: das Abspannwerk Scharnhorst in der Sellerstraße ist ein gutes Beispiel, das MetaHaus in der Leibnizstraße ist vielleicht noch schöner geworden. Der Kahlfeldt-Entwurf für das Schultheiss-Gelände respektiert deutlich mehr von der historischen Bausubstanz, als es die ersten Planungen zeigten. Die alte Ladestraße der Brauerei bleibt in ihrem historischem Rahmen gefasst und zudem offen zum Himmel, ein bereits 200 Jahre altes Pförtnerhaus wird in das Center integriert. Die Abstände zu der Nachbarbebauung sind weiter abgesteckt.
Das Entree zum neuen Moabiter Einkaufszentrum bildet zur Turmstraße hin ein modern gestalteter gläserner Einkaufstempel, der die Handschrift der an diesem Gesamtprojekt beteiligten Architekten Florian Bode und Gerd Johannsen (Hamburg) trägt. Ihre Art, Einkaufszentren zu gestalten, kennen die Berliner bereits: Es sind edle Bauten wie das Forum Neukölln oder die innere Umgestaltung des Lindencorso an der Ecke Friedrichstraße / Unter den Linden. Im Schultheiss-Quartier wird eine vier Meter hohe Zwischenwand aus dem historischen Bestand alte und neue Bauwelt optisch trennen.
Investor HLG will, so war zu hören, nach der Jahresmitte 2012 mit den Arbeiten auf dem Brauereigelände in Moabit beginnen. Zuvor müssen noch die Zwischenmieter verabschiedet werden, das sind Kleingewerbetreibende und Händler der Preisgruppe Second Hand. Nach 24 Monaten Bauzeit, also gegen Ende 2014, sollten die ersten Kunden zum Shoppen kommen. Einkaufszentren dieser Art sind gut für Jahresumsätze je qm von 5000 Euro und mehr. Zudem liegt das Areal nur zehn Spazierminuten vom Berliner Hauptbahnhof entfernt – so könnten Reisende sich die Zeit vertreiben. Das macht Kasse.
Moabit kann den Schub, den sich viele von dem Großprojekt versprechen, durchaus brauchen. „Die Gegend hat Potenzial“ sagt man, wenn man es freundlich meint. Das Quartier um die frühere Schultheiss-Braustätte wird derzeit geprägt vom Pizza- und Döner-Handel, von kleinen Reisebüros, vom An- und Verkauf von Wer-weiß-was, von Geschäften der Marke Billig und von Spielautomatenhallen. Ums Eck schließt sich der Fanklub eines türkischen Fußballvereins an.
Das Brauerei-Gebäude, wie es heute zu sehen ist, wurde 1871/72 nach den Plänen des Architekten Friedrich Koch erbaut – zu Beginn der industriellen Bierproduktion gönnte man sich schon etwas: Mit seiner burgartigen Front, den Zinnen und den fröhlichen Seitentürmchen prägt die Brauereianlage aus Sudhaus und einem Dutzend Gebäudeteilen das Stadtbild von Moabit wie kaum ein anderes Objekt. Die alte Brauerei, zu der auch einmal Ballsaal, Biergarten und Kegelbahn gehörten, war bis 1987 in Betrieb, sieben Jahre später kam das Ensemble unter Denkmalschutz. Jetzt beginnt der Lebensabschnitt Nummer zwei.
Klaus D. Voss
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