Scoring-System: Regierungsberater warnen vor dem gläsernen Bürger
Droht in Deutschland ein Sozialkredit-System wie in China? Der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen warnt vor Risiken.
Wer bei Rot über die Ampel geht, bekommt Minuspunkte. Zu viele Pornos zu schauen oder zu viel Zeit mit Computerspielen zu verbringen, führt ebenfalls zu Abzügen. Pluspunkte gibt’s dagegen für diejenigen, die gesunde Babynahrung im Netz bestellen – ein kleiner Auszug aus dem Sozialkredit-System, das China bis 2020 für seine Bürger plant und bereits testet. Nur wer genug Punkte hat, darf beispielsweise Schnellzüge buchen, sich auf Jobs im öffentlichen Dienst bewerben oder sein Kind auf eine bessere Schule schicken.
Scoring nennt sich dieses System, bei dem Zahlenwerte einem Menschen zugeordnet werden mit dem Zweck, sein Verhalten vorherzusagen oder gar zu steuern, beim Super-Scoring wie in China gar über verschiedene Lebensbereiche hinweg. Solch ein System könnte auch in Deutschland relevant werden, warnt der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen, der heute in Berlin sein Jahresgutachten präsentiert. Die Ergebnisse lagen dem Tagesspiegel vorab vor.
Versicherer könnten System nutzen
Die Entwicklung in China und in anderen Ländern, wo mit sogenannten Super-Scores experimentiert werde, müsse „sorgfältig verfolgt und analysiert werden“, heißt es in dem Gutachten. Gefahr drohe aber nicht etwa durch ein Scoring-System von staatlicher Seite. Problematisch könnten stattdessen Scoring-Systeme kommerzieller Anbieter werden. Durch Datenhändler und Möglichkeiten der De-Anonymisierung von Datensätzen wachse das Potenzial, „aus kommerziellen Gründen Daten aus verschiedensten Lebensbereichen in einer Datenbank und in einem Unternehmen zu vereinen.“ „Dies könnte sogar auf freiwilliger Basis geschehen, wenn sich Menschen dadurch individuelle Vorteile versprechen“, schreiben die Verfasser des Gutachtens, zu denen federführend Risikoforscher Gerd Gigerenzer und Wirtschaftsforscher Gert G. Wagner gehören.
Das sei nicht etwa ein fernes Zukunftsszenario, sondern das Potenzial existiere „ganz konkret bei Versicherungsunternehmen, die verschiedene Versicherungssparten betreiben.“ Datenbestände könnten zusammengelegt und im Zusammenhang ausgewertet werden. „Wer gesund lebt, könnte zum Beispiel eine günstigere Berufsunfähigkeits-Versicherung angeboten bekommen“. Eine Option, die wohl eher denjenigen offensteht, die nicht an chronischen Krankheiten oder anderen gesundheitlichen Einschränkungen leiden. Würden bestimmte Versicherte deshalb benachteiligt, könne „das Solidaritätsprinzip gefährdet sein“, warnen die Gutachter. Tarife könnten abhängig von der individuellen Leistungsfähigkeit auseinanderdriften und die Wahlfreiheit eingeschränkt werden, beispielsweise für Personen mit hoher Datenschutzpräferenz. Zwar sei das Solidaritätsprinzip durch die Sozialversicherungen geschützt, „fragwürdig sind allerdings Bonus-Programme der gesetzlichen Krankenversicherungen.“
Mensch wird nicht nur digital "gescort"
Grundsätzlich sei Scoring keineswegs ein Phänomen der digitalen Welt, betonten die Gutachter. Traditionell würden Menschen nicht nur hinsichtlich ihrer Kreditwürdigkeit (Schufa), sondern auch in Bildungseinrichtungen mit Noten „gescort“ oder beispielsweise beim Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg. Die Digitalisierung vervielfache jedoch die Möglichkeiten, Personen einzuschätzen und zu bewerten, vor allem dadurch, dass mehr Daten zur Verfügung stehen, die schneller ausgewertet und verknüpft werden können. Ziel müsse deshalb ein „verbrauchergerechtes Scoring“ sein.
So müssten Verwechslungen der Betroffenen im Rahmen des Datenschutzes ausgeschlossen beziehungsweise minimiert werden sowie Widerspruch gegen den eigenen Scorewert „auf einfache Weise effektiv möglich sein“. Es dürfe „weder direkt noch indirekt auf Basis von geschützten Merkmalen ungerechtfertigt diskriminiert werden“. Wenn Scoring zur Vorhersage dienen soll, müsse belegt werden, „wie gut die Qualität der verwendeten Merkmale sowie die Vorhersagen wirklich sind“. Vorhersagen müssten „das Scoring-Ziel erfüllen und sollten nicht leichtfertig auf andere Bereiche angewendet werden als den, für den ein Score berechnet wurde“. Vor allem aber müsse Scoring für die Betroffenen zu verstehen sein.
Das Gutachten wird heute Verbraucherschutzministerin Katarina Barley (SPD) übergeben. „Ein Scoring-System, wie es die chinesische Regierung anstrebt und derzeit erprobt, ist mit unserer Rechts- und Werteordnung unvereinbar“, sagte sie dem Tagesspiegel vorab. Das würde auch für die europäische Ebene gelten.
Weitere Informationen zum Scoring-Gutachten des Sachverständigenrats finden Sie im Tagesspiegel Background Digitalisierung.