Schuldenkrise: Portugal steht vor dem Kollaps
"Ich glaube, es wird noch schlimmer als in Griechenland", sagt ein Banker. Jeden Tag verschwinden in Portugal über 200 Arbeitsplätze, jeden Tag geht ein neues Unternehmen pleite. Immer mehr rückt das Land ins Zentrum der Euro-Krise.
Die Fabrik der Deutschen, die der Stadt Arbeit gab, ist verlassen, alles Leben aus ihr gewichen, einzig die Deckenventilatoren drehen sich. Rotieren lautlos über dem Kopf von Fernando Castro. „Diese Stille“, sagt der 66-Jährige, „du wirst am Ende ganz verrückt.“ Jeden Tag betritt er die Fabrik zur Sicherheit durch die gleiche Tür. „Ich verliere sonst die Orientierung“, klagt er. Entlang weißer Zettel, die er in den Wochen zuvor auf Türen und Maschinen klebte, sucht er auf 50 000 Quadratmetern den Weg durch Hallen und Gänge, einem in Jahrzehnten gewachsenen Labyrinth von Bauten, Anbauten und Erweiterungen. Ein Assistent begleitet ihn, so sind sie zu zweit, sollte ein Unfall passieren. Die beiden Männer leben davon, das Lebenswerk anderer zu demontieren. Die Fabrik war bis vor kurzem die größte Schuhfertigung Portugals, eine der größten des Landes, und Fernando Castro ist ihr Abwickler. Einer, der immer dann erscheint, wenn das Hoffen vergebens war.
Wo bei der Firma Rohde früher bis zu 3000 Menschen stanzten, nähten, verpackten, arbeitet jetzt nur noch er. Sein Assistent, mehr ein Freund als ein Angestellter, sagt Castro, zählt, hält inne, damit er sich nicht verzählt, schließt kurz die Augen, zählt weiter. „Nach ein paar Stunden kotzt du Maschinen“, stöhnt er. Endlose Reihen von Pfaff-Nähmaschinen, die ehemals ein Vermögen kosteten. „Für die da kriegt man so gut wie nichts. 50 Euro, vielleicht nur 20“, sagt er. Es gibt keinen Markt hierfür. Die Madonnenbilder, mit denen sie die Näherinnen beklebten, vermochten ihre Arbeitsplätze nicht zu schützen. Verwaist sind die vier großen Kantinen, in denen wie nach einer Massenflucht die Stühle kreuz und quer stehen. Die letzten Lohnabrechnungen bedecken die Schreibtische der Buchhaltung. Einsam klingelt ab und an irgendwo noch ein Telefon. Es ist niemand da, der abnimmt.
„Wie konnte das passieren?“, fragen sich die Arbeiter, die in Santa Maria da Feira durchs geschlossene Werkstor schauen. Die Schuhfabrik, die zum deutschen Traditionshersteller Rohde gehörte, war in der nordportugiesischen Region das wichtigste Unternehmen. „Wie ist das möglich?“, rätseln Menschen überall in Portugal, wo die Fabriken schließen, eine um die andere, und an jedem Tag 243 Arbeitsplätze verschwinden. Die in den vergangenen 30 Jahren aufgebaute Industrie löst sich in Pleiten und Insolvenzen auf, das Land rückt immer mehr ins Zentrum der Euro-Krise. Für die internationale Finanzwelt ist Portugal längst angezählt. Die Ratingagenturen stuften die Kreditwürdigkeit des Landes um zwei Punkte herab. Eine Katastrophe bahnt sich an.
Das Wirtschaftswunder exportierten die Deutschen in einen Pinienwald am Stadtrand von Santa Maria da Feira, 150 000 Einwohner, südlich von Porto. Dort baute 1975 die Firma Rohde aus dem hessischen Schwalmstadt ihre erste Fertigungshalle. Wie viele Unternehmen getrieben von den Billiglöhnen im damaligen Armenhaus Europas. Sie produzierten in Feira für Karstadt und Otto, Kaufhof und Reno. „Made in Portugal“ fand der erstaunte Käufer in Deutschland von nun an auf den Sohlen. Die Gegend kam zu Wohlstand, Neubaugebiete entstanden, Supermärkte, vornehme Restaurants und asphaltierte Straßen. Die Fabrik wuchs fast jedes Jahr, und mit jeder Erweiterung wuchs auch die Bedeutung von Sidònio Lamoso, dem Prokuristen. „Ich versuche, diese Sache langsam zu vergessen“, sagt er und streicht mit den Fingerspitzen über die Platte des schweren Eichenschreibtisches, vom dem aus er 33 Jahre lang das Werk leitete.
Er wird das Stück dem Abwickler überlassen, er solle es verhökern, bitter steht Lamoso in seinem früheren Büro. Hier ratterte am 13. März 2007 das Faxgerät, schob sich Zeile für Zeile ein Blatt heraus, das die Pleite des deutschen Mutterkonzerns verkündete. „Das war ein Schlag. Aber da hatten wir immer noch Hoffnung“, sagt Lamoso. Die Firma in Hessen war Opfer ihres eigenen Missmanagement geworden. Zu lange hatte Rohde am Standort Portugal festgehalten, mit seinen Durchschnittslöhnen von 600 Euro galt es den Buchhaltern plötzlich als kostspielig. „Die Chinesen sind bei Schuhen um das Vierfache billiger.“ Dorthin zog dann auch die Fertigung, als der Konzern in Deutschland aus der Konkursmasse neu auferstand. Lamoso kämpfte bis zum Schluss, drei Jahre lang, verhandelte, reiste, warb um neue Kunden. Es fanden sich keine. Die Produktion wurde eingestellt, vor ein paar Monaten räumte Lamoso sein Büro. Den meisten anderen Schuhfabriken in der Gegend erging es gleich. Portugal erwies sich auf dem Zug der Billiglohnnomaden nur als Zwischenstation.
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Kraftlos hängen die Schultern, der Blick Lamosos flackert irritiert. Wie verwandelt wirkt der Mann, sagen die, die ihn kennen. Er kommt in die Fabrik, wenn Verwerter Castro nach ihm ruft, hilflos, inmitten von Bergen an Kartons und Maschinenteilen. Dann blitzt in Lamoso noch einmal der alte Chef auf, kurz, einen Augenblick lang, um rasch wieder zu verlöschen. Er geht nun viel spazieren, morgens und abends, erzählt Lamoso, jätet Unkraut im Garten. „So viel Unkraut“, sagt er, lächelt unsicher, bevor er auf dem Betriebsparkplatz in den Wagen steigt. „Der war mein Boss“, sagt der Pförtner und sieht ihm hinterher, als Lamoso durchs Tor hinausfährt, „jetzt muss er mich um Erlaubnis fragen, um reinzukommen.“
„Nur einer von denen, die alles zugrunde gerichtet haben!“, zischt die Wirtin des „Casa Lima“ gegenüber der Werkseinfahrt. Das Ende der Fabrik reißt auch sie in den Strudel. Nur wenige kommen noch an ihren Tresen, sie kann kaum noch den Strom zahlen. Ihr Mann, der Inhaber eines Altpapierunternehmens, hatte sich wegen Zahlungsproblemen vor sieben Monaten erhängt. Sie nimmt Anti-Depressiva, wartet auf Gäste, schaut auf die Straße, wo frühere Rohde-Beschäftigte ratlos auf und ab flanieren.
Die Krise nimmt das Land in den Zangengriff. Zu lange vertraute die Elite auf die Niedriglohnindustrie, betäubt von einem rauschhaften Aufstieg. Bis vor zwei Jahren war Portugal eine der größten europäischen Erfolgsgeschichten. Die Weltbank führte die Nation mit ihren zehn Millionen Einwohnern noch 1989 als Entwicklungshilfeland, dann begannen es internationale Konzerne zu entdecken. Die EU förderte milliardenschwer. Portugal avancierte zum Musterschüler mit geringem Haushaltsdefizit und sinkender Arbeitslosigkeit. Das Auswandererland wandelte sich zum Einwandererland, zum stolzen Ausrichter von Expo und EM. Aber immer noch blieb das Bildungssystem desolat, konnten 2003 einer Pisa-Studie zufolge fast die Hälfte der Portugiesen die Zeitung zwar lesen, doch nicht ihren Inhalt verstehen. Immer noch schaffte es Portugal nicht, eine eigenständige Industrie aufzubauen. Während seit der EU-Erweiterung 2004 mehr und mehr Billiglöhner nach Osteuropa und China abwanderten, verschuldeten sich Portugals Regierungen mit dem Bau immer neuer Autobahnen, die meisten leer wie sonst nur in Nordkorea.
Die Arbeitslosigkeit schießt jetzt mit 10,7 Prozent auf ein historisches Hoch, die Banken wanken, weil sie in den letzten Jahren Kredite geradezu verschleuderten. Hastig präsentiert die Regierung Rettungspakete, beschließt drastische Sparmaßnahmen, die die größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes provozieren. Für übermorgen haben die Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen. „Ich bitte alle meine Mitpatrioten“, wandte sich Ministerpräsident José Socrates an das Volk, „verteidigt den Euro! Verteidigt unser Land!“
Das Fabriksterben hat auch das Bankhaus von Santa Maria da Feira erreicht, mit Schweißperlen auf der Oberlippe verlässt Victor Marques (Name geändert) das Büro. „Ich glaube, es wird noch schlimmer werden als in Griechenland.“ Er trifft sich zum Gespräch in einem neuen Vier-Sterne-Hotel, nicht weit vom Rohde-Werk, kalte Pracht, 109 Zimmer, fünf Stockwerke, auf denen selten mehr als sechs Gäste logieren. „Die Schuhindustriellen wollten unbedingt ein Luxushotel, um ihre Geschäftspartner unterzubringen“, sagt der Banker und setzt sich in die leere Lounge. „Es war ein Traum – kein Mensch braucht hier dieses Hotel.“
Der Bankangestellte mit hellblauer Krawatte verweigert überall neue Kredite, verrichtet Henkersarbeit, jeden Tag landet eine neue Insolvenz auf seinem Schreibtisch. Jeden Tag erlischt in der Kleinstadt und ihren Dörfern ein Betrieb. Nach der Schuhindustrie kollabiert nun der zweitwichtigste Arbeitgeber, die Korkbranche. Ein Netz aus kleinen und kleinsten Familienunternehmen zerfällt. „Wir sind ein Land ohne Eigenkapital“, sagt der Banker, „die echte Krise erwarte ich im Winter.“ Er fürchtet drastisch fallende Immobilienpreise, weil die Banken – welche gleichfalls keine Kredite bekommen – die Häuser auf den Markt schleuderten, um wieder flüssig zu werden.
Die Einbrüche nehmen zu, manche Häuser in Feira werden dreimal in vier Monaten geknackt. Die Menschen beginnen erneut, ins Ausland zu emigrieren. Unfälle häufen sich auf den Straßen, weil immer mehr übermüdet weite Distanzen fahren. Aus Sorge streichen die Leute ihre Urlaube. Sie haben Angst, jeder in seiner Position, Bankdirektoren wie Arbeiter, sie erkranken, die Wartelisten von Psychiatern sind lang. Halb Portugal scheint derzeit unter Psychopharmaka zu stehen.
Auch dem Ehepaar Barros hat der Arzt Pillen verschrieben. 120 Euro soll die Medikamentenzuzahlung kosten. „Ich weiß nicht, wie wir das machen sollen“, sagt Antonio Barros, der nach 18 Jahren als Lagerist bei Rohde mit der Insolvenz arbeitslos wurde. Das Paar hat zwei Kinder, Ersparnisse, die mit jedem Monat schwinden, sowie Schulden auf der Eigentumswohnung. Vergebens hat sich Antonio Barros bisher als Straßenfeger und Wachmann beworben „Es rümpfen alle die Nase, wenn ich sage, dass ich schon 42 Jahre alt bin.“ Seine Frau Cristina hat noch eine Anstellung als Näherin; während ihrer Schicht brach sie dort vor anderthalb Monaten zusammen. Weinte, zitterte. Jetzt ist sie krankgeschrieben und bekommt nur 65 Prozent des Lohns von 450 Euro.
Der Garten der Großeltern ist ihre Sozialversicherung, das Kartoffelfeld und die Zwiebelbeete ihr Hartz IV. Die Portugiesen kehren zurück auf ihre Äcker, sie jäten und ernten, füttern die Hühner. „Das hält uns über Wasser“, sagt Barros, der 420 Euro an Arbeitslosengeld bezieht. Den Mais müssen sie als Nächstes einholen, dann die Kartoffeln. Er hofft auf einen Fortbildungskurs des Arbeitsamtes. Wie viele seines Alters hat er den Unterricht nur bis zur sechsten Klasse besucht, mit der damals die Schulpflicht endete.
Aus jeder Krise ist Portugal in seiner Geschichte neu erstanden. Etwa nach dem Erdbeben 1755 das strahlende Lissabon. Aber jetzt hat viele die große Skepsis ergriffen, sie zweifeln daran, dass ihr Land auch diesmal die Kraft zur Erholung aufbringen wird. „Meine Kinder studieren auswärts“, sagt der Banker in Feira, „sie glauben nicht mehr an Portugal.“
Der Abwickler Fernando Castro erlaubt unterdessen dem Pförtner, eine frühere Rohde-Beschäftigte durchs Tor zu lassen. Sie hat gebeten, den Sauerampfer, der auf dem Firmengelände wächst, rupfen zu dürfen. Er ist zart und saftig.
Wolfgang Bauer