Berliner Mercedes-Werk in Gefahr: Motor aus
Daimler wendet sich vom Verbrenner ab. Das hat hat Folgen für den Standort in Marienfelde, wo Motoren produziert werden.
Berlin - Ein Berliner Industriedenkmal wackelt. Das Motorenwerk von Mercedes in Marienfelde, wo seit 1902 produziert wird, verliert in absehbarer Zeit das wichtigste Produkt: Der Verbrennungsmotor läuft aus. Die Stuttgarter Konzernführung hat entschieden, nicht mehr in diese Technologie zu investieren. Am Donnerstagmittag will die Werkleitung die Belegschaft bei einer Freiluft-Betriebsversammlung in Marienfelde über die Pläne informieren. Rund 2500 Mitarbeiter sind betroffen. Das Motorenwerk ist neben den Siemens-Fabriken, dem Zughersteller Stadler in Pankow und dem BMW-Motorradwerk in Spandau einer der wenigen großen industriellen Arbeitgeber in der Stadt. Im Herbst 2002 hatte der damalige Daimler-Chef Jürgen Schrempp anlässlich des 100. Geburtstags in Marienfelde das „beeindruckenden Stück deutscher Industriegeschichte“ in Anwesenheit von Bundeskanzler Gerhard Schröder gewürdigt. Diese Geschichte muss nun neu weitergeschrieben werden.
Die Motoren für Mercedes-Pkw werden im so genannten Leitwerk Untertürkheim und in Berlin gebaut. In Untertürkheim stehen nach den vorläufigen Plänen bis 2025 rund 4000 der 18 500 Arbeitsplätze zur Disposition, berichtete die „Stuttgarter Zeitung“. Im Gegenzug solle das Werk zu einem „Entwicklungs-und Befähigungsstandort für Elektromobilität“ umgebaut werden. Unter anderem sei eine Fertigung von Batteriezellen am Neckar möglich. Bislang kauft Daimler, wie die anderen Autokonzerne auch, die Zellen bei asiatischen Herstellern. Unter dem neuen Vorstandsvorsitzenden Ola Källenius wurde aber die Bedeutung der Batteriezellen für die Elektromobilität erkannt. Eine Zellenfertigung zumindest mit Partnern wird derzeit in Stuttgart erwogen. Untertürkheim hatte 2019 den Zuschlag bekommen für die Produktion des elektrischen Antriebsstrangs. Indes scheint es jetzt Überlegungen zu geben, aus Kostengründen zumindest einen Teil dieser Fertigung im Ausland anzusiedeln.
Die Beschäftigung rund um den Verbrennungsmotor ist am stärksten betroffen von der Umstellung auf Elektromobilität. Stromautos sind weniger komplex und entsprechend weniger aufwendig zu produzieren, sodass von den rund 200 000 Arbeitskräften, die mit der Herstellung des Antriebsstrangs hierzulande ihren Lebensunterhalt verdienen, ein großer Teil ihre gewohnte Tätigkeit verlieren wird.
Das Berliner Werk produziert nach Konzernangaben Komponenten „mit Technologien zur Verminderung von CO2-Emissionen“. Dazu gehört unter anderem die Motorsteuerung Camtronic. „Für dieses variable Ventilverstellsystem fungiert der Standort als Kompetenzzentrum im weltweiten Powertrain-Produktionsverbund“, heißt es bei Daimler. Das ist bald Vergangenheit. Dagegen gehört die „Montage eines elektrischen Antriebsmoduls für Fahrzeuge der Produkt- und Technologiemarke EQ“ zu den Bereichen des Berliner Werks, die die Transformation überleben dürften.
Daimler ist bei der Umstellung auf Elektromobilität noch später dran als BMW und Volkswagen/Audi. Die teure Umstellung auf E-Autos sowie der Absatzeinbruch in den ersten Corona-Monaten hatten Ende Juli zu einer Verschärfung des bereits laufenden Sanierungsprogramms geführt, mit dem Daimler nun insgesamt zwei Milliarden Euro im Jahr sparen will. Unter anderem wird die Wochenarbeitszeit für Daimler-Beschäftigte in der Verwaltung und in den produktionsnahen Bereichen für ein Jahr um zwei Stunden ohne Lohnausgleich reduziert. Für alle Arbeitnehmer entfällt die Ergebnisbeteiligung für 2020, und das tariflich Zusatzgeld wird 2021 nicht ausgezahlt, sondern in freie Tage umgewandelt. Alles in allem spart Daimler dadurch 5,7 Prozent der Lohnkosten je Beschäftigten.
Gleichzeitig sind im Konzern, der rund 300 000 Mitarbeiter hat, davon etwa 170 000 in Deutschland, betriebsbedingte Kündigungen hierzulande bis Ende des Jahrzehnts ausgeschlossen. Personalabbau funktioniert also nur sozialverträglich – über freiwilliges Ausscheiden gegen Zahlung einer Abfindung oder Altersteilzeit. Hinzu kommt die Nichtbesetzung frei werdender Stellen.
Im Daimler-Betriebsrat hieß es am Mittwoch, in den kommenden Wochen und Monaten werde man mit dem Management „Zielbilder“ für die deutschen Standorte entwickeln: Welche Investitionen für welche Produkte anstehen und wie viele Arbeitsplätze für welche Tätigkeiten gebraucht werden. „Wir beginnen jetzt die Diskussion“, hieß es im Betriebsrat auf Anfrage, „und zwar auch über Alternativen zum Verbrennungsmotor“.
Das klingt so ähnlich wie die Verlautbarung aus der Konzernführung. „Für den Standort Untertürkheim sowie die anderen Powertrain-Standorte werden Wege zur Umstellung der Wertschöpfung im Rahmen der Transformation erarbeitet.“ Die „anderen Standorte“ sind Hamburg, wo Achsen gefertigt werden, und Marienfelde. Dort begann die Industriegeschichte 1902 mit der Produktion von Boots- und Schiffsmotoren.