Fünf Jahre EZB-Präsident: Mario Draghi, der Unbeirrbare
Seit fünf Jahren ist Mario Draghi Präsident der Europäischen Zentralbank – Kritik an seiner Zinspolitik lässt den 69-Jährigen kalt.
Vor vier Jahren hat er mit drei Worten die Euro-Zone vor dem Kollaps bewahrt, sagen viele. „Whatever it takes“ – er werde alles tun, um den Euro zu retten – damit ließ Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), im Sommer 2012 keinen Zweifel daran, dass er die Europäische Währungsunion nicht vor die Hunde gehen lassen wird. Er hat es geschafft. Bislang. Trotzdem findet sich außerhalb der beiden EZB-Türme im Osten Frankfurts kaum jemand, der Draghi nicht kritisiert. Am 1. November steht der 69-Jährige seit fünf Jahren an der Spitze der EZB, drei weitere Jahre werden folgen. Beirren lässt sich Draghi nicht in seinem umstrittenen Kurs mit Niedrig- und Negativzinsen verbunden mit einem gigantischen Programm zum Kauf von Staats- und Unternehmensanleihen.
Gut gelaunt trat Draghi Ende September vor die Mitglieder des Europaausschusses des Bundestages. Ob er sich auf der Anklagebank gefühlt habe? „Nein, der Austausch ist wichtig. Ich habe es genossen.“ Dabei ist die Kritik gerade in Berlin besonders laut. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hatte dem Italiener sogar eine Mitschuld am Aufstieg der AfD gegeben. Unter Bankern und in der Wirtschaft ist die Schlange der Kritiker lang. Sie fängt bei Deutsche Bank-Chef John Cryan an und hört bei Sparkassen-Präsident Georg Fahrenschon nicht auf. Tenor: Die von Draghi verordnete Niedrigzins-Politik wirkt nicht, sie fördert weder Kreditvergabe noch Investitionen, verhindert eine vernünftige Altersvorsorge und belastet die Banken.
Die Notenbank pumpt 1,7 Billionen Euro in den Markt
Man nehme die Sorgen der Sparer sehr ernst, sagt Draghi. Aber die niedrigen Zinsen seien für mehr Wachstum und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit notwendig. „Die niedrigen Zinsen sind nötig, um künftig zu höheren Zinsen zurückzukehren.“ Seit März steht der Leitzins bei null. Der Zinssatz für Einlagen der Banken bei der EZB ist seit Juni 2014 negativ, derzeit mit 0,4 Prozent. Bis mindestens März 2017 kauft die EZB Monat für Monat Anleihen der Euro-Staaten und von Unternehmen im Volumen von 80 Milliarden Euro. Damit pumpt sie insgesamt 1,7 Billionen Euro in die Wirtschaft und in die Finanzmärkte. Die Nebenwirkungen für Sparer und eine drohende Blase an der Börse und am Immobilienmarkt, sagen Kritiker, ignoriere die EZB.
Volkswirte in Frankfurt sind zurückhaltender. Ulrich Kater von der Dekabank hält es für zu früh, ein Urteil über Draghi zu fällen. „Ob in den Geschichtsbüchern Hopp oder Top steht, ist noch nicht raus. Sollten die Zinsen 2020 nicht steigen, wäre er ein tragischer Don Quijote.“ Bislang habe er sich als sehr effektiver Geldpolitiker erwiesen. „Draghi hat das Finanzsystem stabilisiert.“ Ähnlich sieht es Cyrus de la Rubia von der HSH Nordbank. „Er hat die Krise 2012 nachhaltig beruhigt.“ Mittlerweile zeige die Zinspolitik aber negative Nebenwirkungen. Andere halten dem Italiener vor, dass er die begrenzte Handlungsbereitschaft der Politik nicht gesehen hat. „Wir wissen nicht, was gewesen wäre, wenn Draghi und die EZB nicht so gehandelt hätten, wie sie gehandelt haben", hält Christian Lips von der NordLB dagegen. Auch Bundesbank-Präsident Jens Weidmann, einer der schärfsten Kritiker von Draghi im EZB-Rat, hat Alternativen zum eingeschlagenen Kurs nie wirklich aufgezeigt.
Eine Aktivistin versetzte Draghi 2015 den größten Schreck
Draghi lässt sich nicht beirren. Er sitzt nach mehr als der Hälfte seiner achtjährigen Amtszeit fester im Sattel denn je, lenkt die Notenbank souverän von seinem Büro im 40. Stock der EZB-Zentrale. Nichts deutet darauf hin, dass er die geldpolitischen Zügel kurzfristig wieder anzieht, möglicherweise bleibt der Leitzins in seiner noch verbleibenden Amtszeit bis Ende Oktober 2019 bei null und der Einlagenzins für Banken, vermuten Volkswirte, negativ. Auch zumindest das allmähliche Auslaufen („Tapering“) des 1,7 Billionen Euro schweren Anleihe-Kaufprogramms ab März nächsten Jahres ist nicht sicher.
Den größten Schrecken bereitete Draghi im April 2015 eine Aktivistin, als sie zu Beginn der Pressekonferenz in der EZB auf den Tisch sprang. „Stoppt die EZB-Diktatur“ rief sie und ließ Papierschnipsel über Draghi niederrieseln. Der riss seine Arme vors Gesicht, wirkte kurz verängstigt, hatte aber schnell die Fassung wieder. Bei aller Kritik: Der Italiener ist überzeugter Europäer. Aber er ahnt wohl, dass der geldpolitische Spielraum immer kleiner wird, auch wenn er behauptet, er habe noch viele Pfeile im Köcher. Die Inflation soll wieder in Fahrt kommen bis an die Schwelle von zwei Prozent, an der die EZB Preisstabilität gewahrt sieht. Das gelingt nur langsam. Dem Vernehmen nach berät sich Draghi nur mit wenigen Vertrauten in der EZB. Seine Vorgänger Wim Duisenberg und Jean Claude Trichet waren offener, luden zu Hintergrundgesprächen. Draghi hält davon offensichtlich nicht viel, lächelt zwar häufig, aber er wirkt reserviert.
Auch mit Deutschland ist der gebürtige Römer dem Vernehmen nach nie warm geworden. Der habilitierte Wirtschaftswissenschaftler lehrte in Florenz und Harvard, arbeitete für die Weltbank, kümmerte sich im Finanzministerium in Rom um die Sanierung der italienischen Staatsfinanzen, war Vize-Präsident bei der Investmentbank Goldman Sachs. 2005 rückte Draghi an die Spitze der italienischen Zentralbank. Der Job als Präsident der EZB wird wohl seine letzte berufliche Herausforderung sein. Draghi wird alles dafür tun, dass die Eurozone wieder in die Spur kommt. Am Ende würde er auch den Leitzins wieder erhöhen. Wenn es die Politik zulässt.