Burn-Out-Experte Adli im Interview: "Man muss seine Stressfallen entdecken"
Mazda Adli ist einer der führenden Experten für die Behandlung von "Burn-out"-Erkrankungen. Mit dem Tagesspiegel spricht er über den Fall Platzeck und wie man sich gegen zu viel Stress im Job wehren kann.
Herr Adli, vor einer Woche hat Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck seinen Rückzug angekündigt und dafür gesundheitliche Gründe angeführt. Wie krank kann Arbeit machen?
Grundsätzlich kann man sagen, dass Arbeit die seelische Gesundheit eher fördert. Aber es kann ungünstige Konstellationen im heutigen Arbeitsleben geben, die gesundheitsgefährdend sein können. Es sind dann die Umstände von Arbeit, die zum Problem werden.
Welche Umstände sind das?
Wir leben heute in einer Dienstleistungsgesellschaft, die auf neuer Kommunikationstechnologie beruht. Unsere Arbeitsprozesse werden komplexer und dichter. Hinzu kommt die ständige Erreichbarkeit, die oft verlangt wird. Es gibt auch eine höhere Prozessverantwortung für jeden einzelnen Arbeitnehmer als früher. Viele sind heute sehr viel selbstständiger mit Aufgaben beschäftigt, zum Beispiel vor dem Computer. Das kann gut sein – man steht aber eben auch oft allein mit seiner Aufgabe da.
Andererseits gilt es ja gerade als Idealfall, im Beruf Verantwortung übernehmen zu können. Wo verläuft für Sie die Grenze zwischen dem, was noch gesund ist, und dem, was schadet?
Verantwortung ist gut, so lange ich das Gefühl habe, dass ich durch mein Handeln etwas verändern kann. Verantwortung kann aber dann zum Problem werden, wenn man sie zwar trägt, die getroffenen Entscheidungen aber zu keinen Konsequenzen führen. Zum Beispiel dann, wenn in einem Team die gefällten Entscheidungen einer Person ignoriert werden. Oder wenn man es – wie es zum Beispiel bei Platzeck und dem Flughafen BER der Fall ist – mit einem großen Projekt zu tun hat, wo jede Entscheidung problembehaftet sein kann, egal in welche Richtung man geht.
Was passiert medizinisch in einer solchen Stresssituation?
Psychologisch gibt es das Anforderung-Kontroll-Modell. Wenn hohe Anforderungen vorliegen, man andererseits aber einen zu kleinen Handlungsspielraum hat, dann steigt der Stresspegel. Das kann man auch messen. Das führt dann zu einer ständigen Belastung von Psyche und Körper. Wir kennen Untersuchungen, bei denen gezeigt wurde, dass gesunde Beschäftigte, die zu wenig Kontrolle über die Wirkung ihrer Arbeit empfinden, ein über doppelt so hohes Risiko tragen, vorzeitig an einer Herz-Kreislauf-Ursache zu sterben.
Oft hat man als Arbeitnehmer keinen direkten Einfluss auf das berufliche Umfeld und die Arbeitsabläufe. Welche Möglichkeiten gibt es, aus sich selbst heraus solche Erkrankungen zu vermeiden?
Der Einzelne hat durchaus verschiedene Möglichkeiten zur Hand. Wichtig ist, bei sich selbst festzustellen, wo die persönlichen Stressfallen liegen – zum Beispiel zu wissen, ob man ein ausgeprägter Perfektionist ist: Laufe ich mit einem sehr hohen Selbstanspruch durchs Arbeitsleben? Dieses zu erkennen, kann schon sehr hilfreich sein. Denn Perfektionismus ist zwar oft die Voraussetzung für beruflichen Erfolg. Er kann aber dann zum Problem werden, wenn man auf der Karriereleiter weit oben angekommen ist. Dort kann man dann mit extremem Perfektionismus auf Probleme stoßen.
Durch gezielte gedankenbasierte Strategien kann man versuchen, solche Stressfallen zu umgehen. Ein Beispiel ist der Einsatz von „Brückengedanken“. Dabei werden zum Beispiel die „Selbstgespräche“, die wir tagtäglich innerlich mit uns führen, dazu eingesetzt, um gezielt eine Komplementärtugend wie Gelassenheit zu entwickeln. Wenn man etwa in Eile ist, macht es einen großen Unterschied ob man sich sagt: „Auf die fünf Minuten kommt es nicht an“, oder ob man sich selbst unter Druck setzt. Man fühlt sich dann anders, auch wenn die Situation dieselbe ist.
Definieren sich die Menschen heute stärker über ihre Arbeit als früher?
Die Bedeutung der Erwerbsarbeit ist tatsächlich höher als noch vor einer Generation, vor allem weil die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verwischen. Es gibt kaum mehr Arbeitnehmer, die nicht auch außerhalb der Arbeitszeit per Mail erreichbar sind oder ein Smartphone bei sich tragen. Wir sind eine urbanisierende Gesellschaft, die tendenziell weniger in familiären Strukturen lebt. Das macht die Bedeutung des Arbeitslebens sozial wichtiger. Wir neigen heute mehr dazu, unser Selbstwertgefühl ausschließlich aus der Arbeit zu beziehen.
Wie Arbeitgeber ihre Angestellen schützen können
Gibt es Berufsgruppen, die besonders gefährdet sind?
Ja, zum Beispiel Führungskräfte in einer „Sandwichposition“, die Verantwortung nach oben wie nach unten haben. Gefährdet sind auch Menschen in sozialen Berufen, zum Beispiel Lehrer, Krankenschwestern und Sozialarbeiter. Das sind oft Menschen mit hohem Idealismus und Einsatzbereitschaft. Daher sind sie auch schneller enttäuschbar. Auch die IT-Branche wird oft als Risikobereich genannt, vermutlich weil Beschäftigte dort eher eigenbrötlerische Tätigkeiten verrichten. Grundsätzlich sehen wir aber Betroffene aus allen Berufen.
Politiker gelten aus Ihrer Sicht nicht als besonders gefährdet?
Man wundert sich ja eigentlich, warum Politiker eher seltener mit einem „Burn-out“ auffallen. Auch die Geschichte mit Platzeck stellt eher eine Ausnahme dar. Solange sie erfolgreich sind, kommen gerade Spitzenpolitiker sehr gut mit viel Arbeit zurecht. Es wäre auch falsch zu glauben, dass viel arbeiten automatisch auch viel Stress bedeutet.
Stress entsteht nicht durch zu viel Arbeit, sondern durch zu wenig Einfluss, zu wenig Lohn oder auch durch zu wenig Anerkennung.
Welche Berufsgruppen sind am wenigsten gefährdet?
Man sagt, dass Top-Manager, also Menschen auf der obersten Führungsetage, eher weniger gefährdet sind. Das sind vermutlich Menschen, die sich schon von Natur aus durch hohe Stresstoleranz auszeichnen. In den höchsten Positionen wird auch eher ein hohes Arbeitsaufkommen durch Einfluss und hohes Kontrollerleben kompensiert.
Viele Menschen wollen inzwischen über das Rentenalter hinaus arbeiten. Ist das gut?
Es gibt viele Menschen, die bekommen psychische Probleme erst dadurch, dass sie ins Rentenalter übergehen, weil sie mit dem Ruhestand nicht klarkommen. Das bedeutet für viele Menschen Stress, die vorher sehr mit ihrer Arbeit identifiziert waren. Sie erfahren dann plötzlich einen Bedeutungs- und Sinnverlust. Dass längeres Arbeiten schadet, glaube ich insgesamt nicht.
Sie sprachen darüber, was Arbeitnehmer tun können, um psychischen Erkrankungen vorzubeugen. Was können Arbeitgeber in dieser Hinsicht tun?
Wir brauchen vor allem eine neue Wertschätzung von Arbeit. Da hinken wir hinterher. Es gibt bis heute keine guten Vorgaben, wie ein Schutz der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz konkret aussehen sollte. Zumindest gibt es noch kaum Leitlinien oder Standards zu der Frage: Wie muss eigentlich ein für die psychische Gesundheit günstiger Arbeitsplatz heute aussehen? Das kann Ihnen bis heute niemand verbindlich sagen. Bei anderen Gesundheitsthemen ist das anders, zum Beispiel wenn es darum geht, wie ein rückenschonender Arbeitsplatz ausgestattet sein sollte.
Es bestehen auch noch zu viele Tabus. Keiner tut sich heute leicht damit, im Betrieb zu sagen, er geht zum Präventionsprogramm für die Psyche, vor allem Männer nicht. Deshalb ist es wichtig, ein naturwissenschaftliches Verständnis von Stress zu vermitteln – viele Menschen akzeptieren eine solche Sicht auf die Dinge eher.
DER ARZT
Mazda Adli, 43, gilt als einer der führenden Experten für die Behandlung von „Burn-out“-Erkrankungen in Deutschland. Er wurde 1969 als Sohn einer iranischen Diplomatenfamilie in Köln geboren. Nach dem Studium in Bonn, Wien und Paris arbeitete er als Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité und leitet dort eine Forschergruppe. Seit Anfang Juli ist er Chefarzt der Fliedner Klinik in Berlin.
DER FORSCHER
Adlis Forschung konzentriert sich auf die Entstehung und Behandlung von Stimmungsstörungen sowie von Erkrankungen, die mit Stress am Arbeitsplatz assoziiert werden. Adli selbst entspannt in seiner Freizeit mit Chorsingen. Im Jahr 2000 gründete er an der Charité den Chor „The Singing Shrinks“, dem ausschließlich Psychiater, Neurologen und Psychologen angehören.
Das Gespräch führte Fabian Leber.
Fabian Leber
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