Partnerland der Grünen Woche: Lettland läuft die Zeit davon
Zu viel des Guten: Das Partnerland der Grünen Woche 2015 hat Journalisten eingeladen, sich ein erstes Bild von dem baltischen Staat zu machen. Ein Reisebericht.
Die blonde Bäuerin in ihrer rot-weißen Tracht winkelt den Arm elegant an, greift nach den prallsten Äpfeln am Baum, strahlt in die Kameras. „Jetzt können Sie ein schönes Foto machen“, sagt ein Mann in holprigem Deutsch und zupft eine Besucherin am Ärmel, die soeben aus einem Reisebus gestiegen ist und sich hinkniet, den Hofhund zu streicheln. Schon hat die Bäuerin von dem Apfelbaum abgelassen, die Reisegruppe soll schließlich noch die Handarbeiten und die hauseigene Schafherde begutachten. Da schiebt der Mann den Gast schnell nach vorne: „Noch einmal, bitte!“
Die Gruppe befindet sich in Lettland – auf Einladung des lettischen Landwirtschaftsministeriums reiste Ende August eine Delegation von Berliner Journalisten und Mitarbeitern der Messe Berlin ins Baltikum. 2015 wird Lettland, das nicht einmal zwei Millionen Einwohner zählt, die Ratspräsidentschaft in der EU übernehmen. Dazu engagiert sich das Land im Januar als Partnerland der Internationalen Grünen Woche in Berlin, der größten Ernährungsmesse der Welt. Gute Gründe, den kleinen Staat am oberen rechten Rand Europas besser kennen zu lernen.
Das Essen fällt aus
Bei ihrer Ankunft am Flughafen Riga wurden die Gäste schon von Janis Vanags, Vice President der Fluggesellschaft Air Baltic, erwartet. Er bittet um Entschuldigung, dass man in einer kleinen engen Propellermaschine gesessen hat. Die Fluggesellschaft habe viel größere, schönere Maschinen, und eine Businessklasse mit tollem Frühstück, das aus organisatorischen Gründen nicht gereicht werden konnte. Kein Problem für die Reiseteilnehmer, die ja wussten, dass Air Baltic eine Billigairline ist: Die Koffermitnahme etwa ist nicht inbegriffen, den Gästen war nahegelegt worden, nur mit Handgepäck zu reisen. Dafür werden Flüge schon ab 29 Euro angeboten, dies ist den umfangreichen Infomaterialien zu entnehmen, die anstelle der Getränke ausgeteilt wurden.
Im Hotel habe man ein Mittagessen gebucht, leitet Arvids Krivens, im Landwirtschaftsministerium verantwortlich für internationale Beziehungen, dann die Tour offiziell ein. Doch obgleich der Flieger pünktlich war, sei die Zeit knapp. Um 15 Uhr erwarte der Landwirtschaftsminister die Deutschen. Ob man das Essen wohl ausfallen lassen könne?
Deutschland sei „der wichtigste Handelspartner Lettlands nach Litauen“, betont Landwirtschaftsminister Janis Duklavs. Er hoffe auf eine Intensivierung der Beziehungen, gerade in diesen Zeiten. Dem Land fehlt wegen des russischen Embargos ein großer Abnehmer. Unterstützung bei der Bekämpfung der Afrikanischen Schweinepest wünscht Duklavs sich, zum geplanten Gespräch über Landwirtschaft und Fischerei kommt es aber nicht. Für konkrete Fragen verweist er auf das gemeinsame Abendessen. Auch die vorbereitete Präsentation muss entfallen, die Zeit reicht gerade noch für ein Gruppenfoto.
Die Band spielt deutsche Schlager
In der Nationalbank bedauert die Gastgeberin ihrerseits, dass die so knapp ist. Die Führung durch die Dauerausstellung wird größtenteils übersprungen, gestattet nur einen kurzen Blick auf die international prämierten Sondermünzen. Nichtsdestotrotz muss auch der geplante einstündige Rundgang durch die charmante Altstadt von Riga schneller abgehandelt werden als vorgesehen – so schnell, dass ein Teil der Gruppe den Anschluss verliert.
Als schließlich alle wieder auf den Minister treffen, bittet er zum Tanz bei folkloristischer Musik auf dem Vorplatz eines riesigen Selbstbedienungslokals: Das Lido begreift sich als lettisches Volksrestaurant, alle anwesenden Landsleute loben die Qualität und Vielfalt der Speisen ausdrücklich. Gründer Gunars Kirsons führt die Gruppe dann auch stolz durch das Restaurant, das Essen aber muss auch hier warten: Vorher gibt es eine Einführung in die Webkunst, die in Lettland lange Tradition hat. Ein historischer Webstuhl ist aufgebaut, an dem die Gäste sich versuchen dürfen – die Veranstalter sorgen dafür, dass jeder sein Foto bekommt.
Später am Abend dann spielt die Band deutsche Schlager. Der Minister wünscht sich, dass alle schunkeln und mitsingen. Die Freundschaft der beiden Länder wird in sechs Reden beschworen. Für Fragen steht danach nur noch der Restaurantunternehmer zur Verfügung.
Die Bäuerin mit dem Apfelbaum gehört zum kleinen Familienbetrieb Kalnaciruli, der wie viele in der Region Auces mittlerweile auf biologischen Landbau setzt, weil er anders gegen die ausländischen Großkonzerne nicht bestehen könnte. Frau Kalnaciruli hätte viel zu erzählen über den Markt und die Nöte der kleinen Leute. Aber ihr Mann soll ja auch noch seine Schafherde vorführen.
Freibier für den Busfahrer
Weiter geht es für die Delegation zum Naturpark „Tervete“, die Holzwirtschaft ist von großer Bedeutung für Lettland, das zur Hälfte der Fläche aus Wald besteht. Es gibt einen Vortrag über die Vorzüge der lettischen Kiefer und eine kleine grüne Eisenbahn, die die Besucher in einen vom Staat unterhaltenen Märchenpark bringt. Drei Stunden mindestens sollte man für einen Besuch einplanen, empfiehlt die offizielle Tourismus-Seite. Binnen einer Dreiviertelstunde schafft es die deutsche Delegation aber sogar noch auf den höchsten Holzturm Lettlands, von wo aus sie den nächsten Programmpunkt erspähen kann. Die Agrofirma Tervete produziert Milch, Biogas und manches mehr. Am Ende des anschließenden Besuchs der Brauerei Tervete bekommt jeder einen Sixpack Bier überreicht. Die Gäste nehmen das Geschenk verlegen an – um es dann mehrheitlich an den Busfahrer weiterzureichen. Flüssigkeiten sind im Handgepäck schließlich nicht erlaubt.
„Dzintarkrasts“ heißt das Freizeit-Sport-Zentrum an der Ostsee, die nächste Anlaufstelle nach längerer Busfahrt, doch Gelegenheit, das Gelände zu erkunden, ist nicht. Dass im Anschluss an das opulente Dinner eine Honigverkostung geplant ist – Lettland ist für seinen Honig berühmt –, bekommen viele Gäste nicht mit. Mehr als zwei Dutzend Sorten werden aufgefahren. Als sich gegen 23 Uhr alle die Bäuche halten, wird der Vorschlag des rundlichen Ministeriumsvertreters, noch gemeinsam die Sauna aufzusuchen, einhellig abgelehnt.
Um acht Uhr früh will man schließlich fit sein. Lettland ist Deutschland eine Stunde voraus. Und Nickerchen im Bus sind schwierig: Der Soundtrack der Reise ist Jennifer Rush. „The Power of Love“ ist der Klingelton des Ministeriumsvertreters. Als sie binnen 48 Stunden zum 20. Mal mit „whispers in the morning“ ansetzt, erkundigt sich ein mitreisender Journalist vorsichtig, ob lettische Handys auch Vibrationsalarm hätten. Das Argument dagegen duldet keinen Widerspruch: „Jennifer Rush hat lettische Wurzeln!“
Der Entspannungspfad wird abgekürzt
Genau wie der Weihnachtsbaum und Heinz Erhardt, wie die Gäste lernen – und noch vieles mehr. An dem Ort, an dem das Elternhaus des Komikers stand, gibt es heute ein sehr besonderes Hotel: Valguma Pasaule. Seine Inhaber haben es sich zum Ziel gemacht, die Menschen zu entschleunigen. Zum Beispiel mit einem Barfuß-Wanderweg: 2,4 Kilometer auf unterschiedlichsten Böden, die Körper und Geist stimulieren sollen. Die deutsche Delegation nimmt eine Abkürzung, dippt die Füße nur kurz in die eigens vorbereiteten Fußbäder mit Rosenblüten, nippt lediglich an dem Tee aus selbst gesammelten Kräutern, muss sich entscheiden, ob sie die köstlichen Vorspeisen beim Mittagessen genießen oder lieber ein rasches Interview mit der Hausherrin führen will. Das wunderbare hausgemachte Eis bleibt in großen Teilen unangetastet, man drängt zum Aufbruch. Die Uhr, die Uhr!
Allein ein Programmpunkt ist mit einer Dauer von zwei Stunden großzügig anberaumt: eine Schifffahrt hinaus aufs Meer. Die Wellen wiegen sanft, der Wind geht durch die Haare, die Sonne lässt das Wasser glitzern. Die Überfahrt dauert, so lange sie eben dauert. Zwei idyllische, entspannte Stunden.
Das Motto, das sich die lettische Agentur für den großen Messeauftritt im Januar überlegt hat, heißt: „Nimm dir die Zeit für Lettland.“
Es lohnt sich bestimmt.
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