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Gruppenaufnahme der Exil-Journalisten im Newsroom des Tagesspiegel-Verlagsgebäudes in Berlin-Kreuzberg.
© Thilo Rückeis

#jetztschreibenwir: Lernprozess für beide Seiten

25 Exil-Journalisten machten mit der Tagesspiegel-Redaktion eine Zeitung: Das war ein Abenteuer für alle Beteiligten.

Wenn eine syrische Journalistin einen Text schreibt, der im Deutschen 4000 Zeichen haben soll: Wie viele arabische Zeichen muss sie dann schreiben? Mehr, weniger, gleich viele? Das ist nur eine der Fragen, die auftauchen, wenn eine Redaktion sich vornimmt, eine besondere Ausgabe zu machen, die überwiegend von geflüchteten Journalisten geschrieben und bebildert wird.

Es gibt viele weitere: Wie finden wir so viele Exil-Journalisten? Wie sind sie qualifiziert? In welcher Sprache kommunizieren wir, in welcher Sprache schreiben sie, wer übersetzt, haben wir überhaupt arabische Schriftzeichen in unserem Redaktionssystem, und warum heißt der Kollege mal Bilal, mal Belal, mal Mohammed, mal Muhamad? Was die Zeichenzahlen betrifft, vermutet eine Kollegin: Arabisch ist doch eine blumige Sprache – bestimmt werden die Texte durch die Übersetzung ins Deutsche kürzer. Aber nein – es ist genau andersrum.

Es ist ein Lernprozess für alle Beteiligten. Am Anfang standen die Idee und ein Auftakttreffen im Juni. Fast fünfzig Journalisten aus Syrien, dem Iran, Pakistan, Afghanistan, Ägypten, Aserbaidschan, Somalia und dem Tschad kamen ins Tagesspiegel-Haus. Darunter professionelle Journalisten mit jahrelanger Berufserfahrung, meist in oppositionellen Medien; Aktivisten und Blogger; Kollegen, die bereits regelmäßig in deutschen Medien vertreten sind; und interessierte Anfänger. Einige mussten ihr Land wegen Todesdrohungen verlassen, andere haben im Gefängnis gesessen, Folter erlitten, manche sind bereits seit Jahren in Deutschland, andere erst im vergangenen Jahr gekommen.

Beim lockeren Zusammensein kamen sie mit Redakteuren aller Ressorts ins Gespräch. Mitten im Ramadan war das, und schon wieder stand eine Frage im Raum: Stellen wir etwas zu essen und trinken auf? Ja, tun wir, arabisch und deutsch, Wasser und Wein. Manche essen nichts, andere ja, aber alle reden miteinander. Erstaunlich leicht ging das. Brauchen wir Dolmetscher? Es hätte geholfen. Aber es ging auch ohne, deutsch, englisch, mal was wiederholen, mal den Nachbar fragen und vor allem: hinhören.

Die Kontakte waren über verschiedene Netzwerke zustande gekommen: über das Trainee Programm der Neuen deutschen Medienmacher für Journalisten mit Migrationshintergrund und Fluchterfahrung und über das „journalists’ network“. Das Internationale Journalisten- und Mediendialogprogramm der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist offizieller Kooperationspartner des Projekts und unterstützt es.

Aus der Anfangsgruppe blieb ein harter Kern von rund 20 Journalisten übrig, die von Juli bis Oktober zu insgesamt fünf Workshops ins Haus kamen. Von Beginn an ging es darum: Welche Themen interessieren euch, worüber möchtet ihr schreiben? Aber dafür mussten die Teilnehmer erst mal etwas über den Tagesspiegel erfahren. Die Ressortleiter stellten ihre Seiten, den Online-Auftritt, die Social-Media-Aktivitäten, die Arbeitsprozesse in der Redaktion vor.

Es gab bewegende Momente

Der Fotograf Mohammed Albayoush reist aus Schwerin an, Tarek Khello aus Leipzig – das Bedürfnis, Anschluss an eine Redaktion zu finden, ist groß. Es gab bewegende Momente: etwa als alle ihre Fotos für die Reihe "Mein Moment" vorstellten, die sich durch diese Ausgabe zieht. Muhammad Yasin zeigte das Foto eines traurig blickenden Jungen, dem der große Zeh fehlt: sein Sohn, verstümmelt von politischen Gegnern wegen des Engagements seines Vaters. "Er ist noch in Pakistan und ich habe ein schlechtes Gewissen." Aber es gab auch Gelächter, etwa als Hussein Ahmad berichtete, wie er Joschka Fischer zum Selfie überredete: "Ich sah ihn im Restaurant sitzen und habe gefragt, ob wir ein Foto zusammen machen können. Wenn ich einen Politiker sehe, mache ich immer schnell ein Selfie." Er kannte Fischer aus dem Fernsehen in Syrien.

Tagespiegel-Kulturchefin Christiane Peitz (rechts) mit den Exil-Journalisten Ahmad Barakizadeh, Guled Farah und Hiba Obaid (v.l.n.r.).
Tagespiegel-Kulturchefin Christiane Peitz (rechts) mit den Exil-Journalisten Ahmad Barakizadeh, Guled Farah und Hiba Obaid (v.l.n.r.).
© Thilo Rücke

Die Texte trudeln ein – einige Exil-Journalisten schreiben bereits auf Deutsch – und wieder tauchen Fragen auf: Sollen wir Texte, die in einem ganz anderen journalistischen Stil geschrieben sind als hierzulande üblich, so lassen oder für das deutsche Publikum aufbereiten?

Auf den letzten Metern kommt Stress auf. Viele Texte treffen gleichzeitig ein, Thilo Rückeis und Mike Wolff fotografieren alle Autoren, die Übersetzer aus dem Arabischen, Rafael Sanchez und Melanie Rebasso, kommen kaum nach. Manche Fotos, auf der Flucht geschossen, haben nicht die richtige Auflösung: Artdirektorin Sabine Wilms verschiebt die Fotos bis zuletzt von einer Seite auf die andere. Die Idee, von jedem Text eine kleine Zusammenfassung in der Originalsprache anzuhängen, erweist sich als arbeitsaufwendig: Das Redaktionssystem kennt keine arabischen Schriftzeichen, und in einem hierzulande gängigen Word-Programm kann man arabische Texte nicht formatieren. IT-Chef Wolfgang Talke kann helfen.

Dann der Höhepunkt, der "Production Day". Zehn Exil-Journalisten in der Redaktionskonferenz berichten, wie sie die Woche mit den Terror-Nachrichten aus Sachsen erlebt haben und diskutieren mit, wie der Titel der Ausgabe aussehen soll. In Eile tippen die Redakteure die letzten Fotogeschichten der Exil-Journalisten in die Layoutmaske. Politische Aktualitäten gibt es auch an diesem besonderen Tag. Am Abend wird gefeiert: dass wir das zusammen geschafft haben. Und dass wir wissen: Diese Ausgabe ist nicht das Ende der Zusammenarbeit. Es ist der Anfang.

Dorothee Nolte ist Tagesspiegel-Redakteurin im Bereich "Politik und Konzepte". Ihr Text erschien im Rahmen der Tagesspiegel-Ausgabe vom 15. Oktober 2016, die von geflüchteten Journalisten gestaltet worden war.  

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