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Berlin, 1966: Ein Mann spielt einen Leierkasten auf dem Ku'Damm
© Joachim Barknecht / dpa

West-Berlin: Leben in der halbierten Stadt

Als die Mauer gebaut wurde, wurden die West-Berliner eingemauert. Aber wie war das Lebensgefühl in der abgeschnürten Stadt? Viele Berliner nahmen die Mauer gar nicht mehr wahr und genossen ihre subventionierte Komfortzone. Immerhin waren die Kännchen-nur-draußen unschlagbar günstig. Bernd Matthies über eine längst vergangene Zeit.

Wer sich an West-Berlin erinnert, so heißt es manchmal, der hat es nicht erlebt. Möglicherweise ist das der Grund dafür, dass jene, die sich erinnern, in ihren Schilderungen meist eine gigantische Wohngemeinschaft von Verschrobenen und Verirrten imaginieren, die das tatsächliche Leben der Halbstadt nicht unbedingt falsch, aber doch seltsam fehlproportioniert wiedergibt. So, als hätten damals unzählige Wilmersdorfer Witwen bei Möhring die Berlin-Zulage verprasst, während Kiffer, Dealer und wütende Studenten ihren Ekel darüber in Selbstzerstörung münden ließen, schrill untermalt von David Bowies pathetischen Weltraum-Trips.

Es hat das ja alles gegeben – aber das meiste davon haben wir selbst gar nicht erlebt, sondern erst sehr viel später in Büchern und Zeitungen gelesen. Es hatte für den Alltag schlicht keine Bedeutung. Eine typische Frage, die jeder West-Berliner kannte, wurde ausschließlich von außen herangetragen. Sie lautete in etwa: "Wie könnt ihr denn überhaupt leben in diesem Gefängnis?" Wir antworteten darauf stets und, meist, ehrlich: "Wir merken das gar nicht mehr", und damit war eigentlich klargestellt, dass West-Berlin zwar nur das halbe Berlin, aber doch eine ganz normale deutsche Stadt war. Die Mauer war eingepreist ins tägliche Leben wie die gelegentlichen militärischen Muskelspiele zu ihren Seiten; wer das nicht ertrug, der hatte sich schon anlässlich des Chruschtschow-Ultimatums vom Hof gemacht.

Die Berliner nannten ihre Zulage "Zitter-Prämie"

Möglicherweise war es diese politische Zäsur im Jahre 1958, die den Anstoß gab zur Gründung West-Berlins im geistig-moralischen Sinne, bevor der Mauerbau 1961 die endgültigen Tatsachen setzte. Danach waren es vor allem die Subventionen, die das Leben bestimmten. Sie flossen als Berlin-Zulage (vulgo: Zitterprämie) in die Taschen jedes einzelnen Arbeitnehmers, sie flossen in den Aufbau der wirtschaftlich unsinnigen "verlängerten Werkbänke", auf denen vor allem Zigaretten gerollt wurden, und sie flossen in einen aufgeblähten öffentlichen Dienst, dessen Angehörige zudem mit kraftvollen Streiks jederzeit satten Nachschlag einfahren konnten.

So rollten Käfer und Golf in die Stadt, der Fleischermeister war immer der Erste, der den neuen Mercedes fuhr, der Schrebergarten wurde zum Menschenrecht all jener, die kein Haus mit Garten abbekommen hatten. Und die drohende Alterung einer abgeschnürten Stadt wurde ausgeglichen durch die Karawane all jener anpolitisierten jungen Männer, die sich hier dem Wehrdienst entzogen und schließlich dazu beitrugen, dass zum äußeren Druck auf die Regierenden und Etablierten ein innerer Druck kam, der um das ominöse Jahr 1968 herum die sorgsam austarierte gesellschaftliche Balance in Gefahr brachte.

Mariacron und Salzletten am Abend

Aber der Alltag? Unfassbar normal. So normal, dass der Michelin-Führer 1966 schon vier Restaurants mit einem Stern auszeichnen konnte und damit den Ruf der kulinarisch öden Bier- und Buletten-Metropole beschädigte – wenn es denn überhaupt jemand bemerkt hätte. KaDeWe, Rollenhagen und Nöthling schafften wie besessen Hummer, Kaviar und Champagner in die Stadt, um Wohlstand internationalen Standards zumindest auf Weltniveau zu simulieren, während auf den Nierentischen im hellhörigen Neubau eher Mariacron und Salzletten den Abend versüßten.

Hansa-Viertel und Corbusier-Haus schlugen Schneisen ins Dickicht der Mietkasernen, Nationalgalerie und Philharmonie beanspruchten Weltgeltung als Architektur-Ikonen, und bei vielen vermessenen Projekten wie dem ICC, dem Steglitzer Kreisel und dem Kammermusiksaal perfektionierten die dunklen Kräfte der Stadt, was noch heute bei den bekannten Großvorhaben nachhallt; wer im sogenannten Sozialen Wohnungsbau am Drücker saß, musste sich schon sehr dämlich anstellen, um kein märchenhaftes Vermögen zusammenzuraffen.

Es entstanden Schonräume für ungewöhnliche Lebensentwürfe

Doch niemand, notorische Exzentriker wie Rolf Eden einmal ausgenommen, protzte damit groß herum, denn zum West-Berliner Konsens gehörte eben auch, den Reichtum nicht heraushängen zu lassen. Atze Brauner, der mit seinen unzähligen Filmen einen Hauch von Hollywood in die Stadt brachte, aber als Geizkragen bekannt war, ließ sich die Villa von Kirk Douglas nachbauen, aber das war es dann auch schon. In den wirklich großen Villen saßen im Zweifelsfall die alliierten Stadtkommandanten, und noch heute hat Berlin nichts, was der Hamburger Elbchaussee oder München-Grünwald an Sozialprestige vergleichbar wäre.

Umgekehrt begünstigte dieses geringere soziale Gefälle, dass sich Schonräume bildeten für jene, die aus dem bürgerlichen Lebensentwurf ausbrachen und sich Ökotope schafften wie das legendäre Kreuzberg der Vorwendezeit, dessen Spätfolgen noch heute in jeder BVV-Sitzung zu besichtigen sind.

Piefig war alles, was nicht freakig war

Aber auch das Bürgertum zäunte sich, notgedrungen, ein wenig ein. Während der Rest der Republik langsam das Credo der beruflichen Mobilität verinnerlichte, blieb der West-Berliner – oft mangels Alternative – lieber sitzen, wo er einmal saß. Da draußen in "Westdeutschland" waren die Mieten höher und die Sitten strenger, die Berlin-Zulage fiel weg, und ob es woanders auch Kännchen-nur-draußen und Käse-Sahne so günstig geben würde? Es ist vermutlich dieses gelassene Ausharren in der subventionierten Komfortzone, das dem Leben in der Halbstadt nachträglich den schmähenden Beinamen "piefig" eingetragen hat.

Piefig war im Rückblick eigentlich alles, was nicht freakig war und sich in der gegebenen politischen Situation eingerichtet hatte, piefig war das Autowaschen an der Pumpe, piefig waren die bierumdünsteten Ausflugslokale, piefig war Diepgens routiniertes Durchregieren – komisch, dass das Adjektiv nie mit Ost-Berlin in Verbindung gebracht wird, wo es doch sicher nicht schlechter gepasst hätte.

Im Grunde ist heute nur noch eins piefig: Wenn sich der West-Berliner damit brüstet, den Ostteil der Stadt noch nie oder maximal bis zur Staatsoper betreten zu haben. Aber es soll ja auch Ost-Berliner geben, die westlich noch nie übers Brandenburger Tor hinausgekommen sind.

Dieses Stück erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Köpfe" aus dem Tagesspiegel-Verlag, das Sie hier bekommen können: Tagesspiegel Köpfe bestellen

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