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Die Personaloffensive der DB ist dringend nötig.
© HR Schulz/Imago

Krisenmodus als Berufsalltag: Kommt die Personaloffensive der Bahn zu spät?

Schon jetzt ist die Personalnot bei der Deutschen Bahn AG groß. Und in den kommenden zehn Jahren geht die Hälfte der Belegschaft in Rente.

„Willkommen. Du passt zu uns!“ Mit einer großen Arbeitgeber-Kampagne versucht die Deutsche Bahn AG seit zwei Jahren, ihre enorme Personalnot zu lindern. Unter anderem gehören YouTube-Videos dazu, in denen der Schienenriese bei jungen Leuten mit starken Bildern, rasanten Schnitten und coolen Sprüchen Interesse wecken will. Wie zum Beispiel: „Wir haben mobil sein schon vor dem Smartphone erfunden.“ Oder: „Täglich einen Schritt weiter. Für den nächsten Schritt brauchen wir Dich.“

Es gibt derzeit 19.000 offene Stellen bei der Bahn, eine riesige Auswahl aus 500 Berufen, vom Fahrdienstleiter und Ingenieur über den Gleisbauer und IT-Fachmann bis zur Servicekraft. Die vielen Probleme, in denen die DB AG steckt, werden bei der Suche nach Mitarbeitern immerhin angedeutet: „Klar, wir sind nicht perfekt, aber genau daran arbeiten wir jeden Tag.“

Der schlingernde Staatskonzern hat mit seinen Kampagnen zur Personalgewinnung schon einige Preise gewonnen. Die Anstrengung zahlt sich zudem aus. Mit 21.000 neuen Mitarbeitern und 4000 Auszubildenden hat die DB voriges Jahr eine Rekordzahl bei Neuzugängen verbucht.

Darunter waren mehr als 1100 Triebfahrzeugführer, je 700 Fahrdienstleiter und IT-Spezialisten, 1200 Servicekräfte im Zug und am Bahnhof, 800 Reinigungskräfte, fast 1400 Bauexperten und 2000 Instandhalter. Doch all das reicht nicht aus. In der neuen Dachstrategie „Starke Schiene“ heißt es: In Deutschland sollen 100.000 neue Mitarbeiter eingestellt werden.

Die Personaloffensive ist dringend nötig, denn die DB-Belegschaft ist nach vielen Sparrunden der letzten Jahrzehnte im Schnitt ziemlich gealtert. Fast jeder zweite Beschäftigte hat schon das 50. Lebensjahr erreicht, weil die rechtzeitige Verjüngung versäumt wurde. Die Folge: Die Hälfte der aktuell rund 205.000 Mitarbeiter in Deutschland geht in den nächsten zehn Jahren in Ruhestand – jedes Jahr verliert der Transportkonzern also mehr als 10.000 erfahrene Leute, die oft große Lücken hinterlassen.

Zahlreiche Sparrunden

Schon jetzt fehlt bahnspezifisches Fachpersonal an allen Ecken. „Wir stellen jeden ein, der nicht bei Drei auf dem Baum ist“, flachst DB-Chef Richard Lutz gerne mal. Doch die Lage ist ernst, der Arbeitsmarkt leergefegt. Fachkräfte sind hart umkämpft. So dauert es mehr als ein halbes Jahr, bis vakante Stellen von Lok- und Triebfahrzeugführern neu besetzt sind. Im Personen- wie Güterverkehr fehlen Tausende Zuglenker, auch bei den Regional- und Frachtbahnen der Konkurrenten.

Selbst die Schweizer SBB Cargo wirbt entlang deutscher Gleisstrecken mit großen Plakaten für den Wechsel in die Alpenrepublik und zu ihrer vorbildlichen Bahn. Manch ein DB-Lokführer könnte da durchaus schwach werden, wenn er an die drastischen Qualitätsprobleme im deutschen Zugverkehr denkt, die seit Jahren viele Millionen Fahrgäste nerven und das Image seines Arbeitgebers ramponiert haben.

An der Basis sind deshalb ganz andere Töne zu hören als hoch oben im gläsernen Tower der Berliner DB-Zentrale. Beim Personal herrscht oft Frust wegen der vielen Defizite und Fehlleistungen. Kein Wunder: Zuallererst das Zug- und Bahnhofspersonal vor Ort bekommt den Ärger der Kunden zu spüren, wenn Stationen verdreckt sind, wieder mal Züge wegen Technikmängeln oder mangels genügend Mitarbeiter ausfallen. Wenn brauchbare Informationen zu Fahrzeiten fehlen und Toiletten, Türen, Klimaanlagen, Heizungen oder auch nur die Kaffeemaschine im Bordrestaurant mal wieder nicht funktionieren.

Kluft zwischen oben und unten

Die meisten DB-Manager in ihren Büroetagen erfahren davon allenfalls später durch anonyme bunte Charts zu mangelnder Performance und sinkender Kundenzufriedenheit. Wie tief die Kluft zwischen oben und unten im Staatskonzern ist, zeigt zum Beispiel die massive Kritik von Claus Weselsky. Der DB-Verwaltungsapparat sei ineffizient, werde immer größer und könne nichts anderes, als die Belegschaft „immer wiederkehrend durchzurationalisieren“, schimpft der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer.

Weselsky trifft einen zentralen Punkt, warum die Bahn zu oft mit miesem Service und dürftigen Angeboten nervt. Tatsächlich hat der Staatskonzern im deutschen Schienensektor über viele Jahre massiv Personal abgebaut, um Kosten zu sparen und rentabler zu werden. Als die DB AG unter dem rabiaten Ex-Chef Hartmut Mehdorn noch auf Börsenkurs steuerte, wurde das Unternehmen zeitweise regelrecht kaputtgespart.

So arbeiten beim Start der Bahnreform 1994 noch 355.000 Mitarbeiter für den Personen- und Güterverkehr auf der Schiene, also in Zügen, auf Bahnhöfen, in Rangieranlagen und Reparaturwerken, beim Betrieb und Erhalt der Infrastruktur und in der Verwaltung. Knapp 20 Jahre später sind davon nach zahlreichen Sparkonzepten und Rotstiftaktionen weniger als die Hälfte übrig geblieben. 200.000 Jobs wurden gekappt.

DB-Chef Richard Lutz.
DB-Chef Richard Lutz.
© Mike Wolff/Der Tagesspiegel

155.000 Beschäftigte halten Ende 2013 den deutschen Kernbereich Schiene im Konzern halbwegs am Laufen. Insgesamt zählt die DB AG damals zwar noch 288.000 Mitarbeiter. Doch fast die Hälfte davon arbeitet inzwischen im Ausland, bei zugekauften Busfirmen wie Arriva oder Lkw-Speditionen wie Schenker.

Dabei könnte der Zugverkehr viel mehr Personal dringend gebrauchen. Denn die Verkehrsleistung auf der Schiene wächst erfreulich, Züge und Gleise werden immer stärker genutzt. Fast sieben Millionen Menschen nutzen derzeit jeden Tag den Nahverkehr des Staatskonzerns, weitere 400.000 die ICE- und Intercity-Züge. Zusammen sind das 2,5 Milliarden Reisende im Jahr.

Unter Radikalsanierer Mehdorn verdreifacht sich die Arbeitsproduktivität in wenigen Jahren. Das bedeutet aber auch: Pro Mitarbeiter werden drei Mal so viele Fahrgäste und Güter transportiert wie zuvor. Ein Traum für jeden Controller in den oberen Konzernetagen – aber brutale Arbeitsverdichtung für jeden einzelnen Beschäftigten. Kein Wunder, dass Bahnkunden in jener Zeit besonders häufig auf genervte, gefrustete und überlastete Angestellte der Bahn treffen.

Die Wende nach dem Schock

Eine kleine Wende kommt erst nach dem Schock von Mainz. Im Sommer 2013 ist die Landeshauptstadt drei Wochen kaum mit Zügen erreichbar, weil der zentrale Hauptbahnhof stillgelegt werden muss. Fahrdienstleiter fehlen. Die Blamage macht auch international viele Schlagzeilen. Zudem kommt heraus, dass zuvor fast zwei S-Bahnen kollidierten – vermutlich wegen überlasteter Lotsen im Stellwerk.

Danach verspricht der damalige Bahnchef Rüdiger Grube Besserung und der Konzern stellt 600 neue Fahrdienstleiter ein, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Doch die Personalsituation bleibt angespannt. Im Mai 2019 erklärt jeder zweite von 200 DB-Fahrdienstleitern bei einer nicht-repräsentativen Umfrage des ARD-Magazins Report Mainz, sich überlastet zu fühlen.

30 Prozent beklagen deshalb gesundheitliche Probleme, jeder Zehnte gibt sogar zu, bereits schwere Fehler gemacht zu haben – zum Beispiel eine Weiche falsch gestellt oder einen Bahnübergang nicht geschlossen zu haben. Wegen des Personalmangels fielen täglich Züge aus, kritisiert der Betriebsratschef der DB Regio, Jürgen Knörzer, und warnt: „Lange geht das nicht mehr gut.“

Planzahl um 80 Prozent korrigiert

Die Deutsche Bahn entgegnet, man habe bereits viele zusätzliche Fahrdienstleiter eingestellt und solch gefährlichen Ereignisse gebe es nur „sehr selten“. Immerhin hat die Bahnspitze das Ausmaß der Personalnot erkannt und ihre völlig verfehlte Bedarfskalkulation korrigiert.

So plante die Konzernspitze Ende 2017 nur die Einstellung von 13.400 Beschäftigten für das Jahr darauf, also angesichts der Rentenabgänge unterm Strich kaum eine Aufstockung trotz der wachsenden Nachfrage. Neun Monate später musste die Planzahl um 80 Prozent erhöht werden. Denn unter anderem Produktivitätsfortschritte wurden viel zu optimistisch eingeschätzt, wie aus der vertraulichen „Agenda für eine bessere Bahn“ von DB-Chef Lutz hervorgeht, die dem Tagesspiegel vorliegt.

Der Bahnchef hofft jetzt, dass die Rekrutierungskampagnen helfen. Doch die vielen Sanierungskonzepte der vergangenen Jahrzehnte könnten manch fähigen Bewerber weiterhin abschrecken. Wer will schon zu einem Unternehmen, das ständig im Krisenmodus arbeitet? Auch deshalb wird es Zeit, dass der größte Staatskonzern sich mit Hilfe der Politik neu aufstellt und als klimaschonendes Unternehmen die Chancen einer Verkehrs- und Energiewende nutzt. Damit würde die Bahn ganz automatisch auch als Arbeitgeber attraktiver werden.

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