Wirtschaftstheorien: John Maynard Keynes feiert das Comeback des Jahres
Über Jahrzehnte war er ein Fall fürs Archiv. Seine Theorien waren zu links und schädlich für die Staatsfinanzen. Doch in der derzeitigen Wirtschaftskrise kommen die Mächtigen dieser Welt nicht mehr am britischen Ökonom John Maynard Keynes vorbei.
Nein, mit diesem Mann will niemand etwas zu tun haben. Nicht Angela Merkel, obwohl sich die Kanzlerin gerade für ihr 32 Milliarden Euro schweres Konjunkturpaket von ihm inspirieren ließ. Kein Lob von Nicolas Sarkozy, obwohl Frankreichs Präsident die Idee mit dem neuen 26-Milliarden-Programm von ihm geklaut hat. Den Namen des Mannes nicht einmal aussprechen würden Mächtige wie US-Präsident George W. Bush oder Chinas Premier Wen Jiabao – obwohl beide in seinem Geiste gegen die Rezession kämpfen. Der eine mit bislang 180 Milliarden Dollar, der andere mit 550 Milliarden.
Der Mann heißt John Maynard Keynes, und seine Ideen galten über Jahrzehnte als zu verstaubt, zu links, zu gefährlich für die Staatsfinanzen – ein Fall fürs Archiv. Doch in diesen Tagen ist sein Werk Thema an jedem Regierungstisch, obwohl der britische Mathematiker seit mehr als 60 Jahren tot ist. Im Angesicht des wirtschaftlichen Abgrunds ist die Welt fündig geworden bei dem Lord, der als einer der wichtigsten Ökonomen überhaupt gilt. Er legt das Comeback des Jahres hin: Die Verstaatlichung von Banken, Regierungsgarantien für Sparbücher, die Ausgabe von Konsumschecks, all das geht auf Keynes zurück. Der Kapitalismus zeigt einmal mehr, dass er nicht nur kraftvoll, sondern auch labil ist – und mitunter gerettet werden muss.
Keynes glaubte an die "unsichtbare Hand"
Daran mochte indes Keynes lange selbst nicht glauben. An der Universität in Cambridge als Student der Mathematik und der Ökonomie hatte der 1883 geborene Professorensohn gelernt, dass "die unsichtbare Hand" es schon richten werde. Der Mechanismus also, mit dem der Philosoph Adam Smith 1776 das geheimnisvolle Wirken der Marktkräfte beschrieben hatte: Angebot und Nachfrage glichen sich stets aus, weil der Eigensinn der Menschen dafür sorge, hatte dieser im Buch "Der Wohlstand der Nationen" behauptet. Und Keynes hatte ihm geglaubt, als Wissenschaftler und als Unterhändler bei den Verhandlungen von Versailles nach dem Ersten Weltkrieg: Krisen, so die als Neoklassik bezeichnete Lehrmeinung, bewältige der Markt von allein. Weil das Geld in einem steten Kreislauf zwischen Unternehmen und Verbrauchern hin- und herfließe.
Spätestens im Herbst 1929 beschlichen Keynes Zweifel an diesem Automatismus – weil plötzlich nichts mehr floss. Ende Oktober kamen die Börsenkurse in New York ins Rutschen und rissen Unternehmen rund um den Globus mit in die Tiefe. Millionen Menschen standen nun auf der Straße, das Geld wurde wertlos. Die Krise dauerte und dauerte – doch der Markt richtete es nicht.
"Der Patient braucht nicht Ruhe, sondern Bewegung"
Keynes schloss daraus, dass die Ökonomen bis dato einen wichtigen Punkt übersehen hatten: die Psyche der Menschen. Mache sich in einer Krise Pessimismus breit, könne dies das wirtschaftliche Leben lähmen: Firmen investierten nicht mehr, müssten Jobs streichen und würden ihre Produkte dann erst recht nicht los, weil niemand mehr konsumiere. "Die Aufgabe, das Volumen der Investitionen zu steuern, kann nicht in privaten Händen gelassen werden", folgerte Keynes.
Mit anderen Worten: Wenn alle private Initiative gelähmt ist, müsse der Staat einspringen und in Straßen, Schienen und Schulen investieren. Die Massenarbeitslosigkeit gefährde sonst die Demokratie. "Jetzt ist die Zeit für Körperschaften, mit allen Arten sinnvoller Verbesserungen geschäftig und tätig zu sein. Der Patient braucht nicht Ruhe, sondern Bewegung", rief er damals im Radio.
"Wir sind jetzt alle Keynesianer"
Auf diese Idee waren vor Keynes zwar schon andere gekommen. Trotzdem revolutionierte er 1936 mit dem Buch "Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" die Ökonomenwelt. Nach dem Krieg erkannten auch Politiker rasch den Charme seiner Ideen. Sie träumten von der Feinsteuerung der Wirtschaft über genau dosierte Ausgabenprogramme und dem Ende aller Krisen. In Deutschland funktionierte das zunächst, etwa im Abschwung 1967 unter dem SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller. "Wir sind jetzt alle Keynesianer", tönte 1971 gar US-Präsident Richard Nixon.
Doch bald zeigte sich, dass Keynes und seine Anhänger dem Staat zu viel zugetraut hatten. Egal welches Problem auftrat – stets reagierte die Politik mit Ausgaben. Dabei war fehlende Nachfrage oft nicht das Problem, sondern hohe Kosten. Inflation, Staatsschulden, steigende Arbeitslosigkeit und schwaches Wachstum waren das Erbe der sorglos betriebenen Politik, die sich auf Keynes berufen hatte.
Zudem kamen die Staaten mit ihrem "deficit spending" regelmäßig zu spät, wie eine Studie der Europäischen Zentralbank zeigt. Was den Abschwung eigentlich abschwächen sollte, hat nur den Aufschwung verstärkt, weil der früher kam als gedacht. Kurz: Viele Konjunkturprogramme waren unnötig, sie wirkten pro- statt antizyklisch.
Derzeit gibt es keine Alternative
Doch in der derzeitigen Lage gibt es keine Alternative – findet auch Jürgen Kromphardt, Ex-Wirtschaftsweiser aus Berlin und Vorsitzender der deutschen Keynes-Gesellschaft. Allerdings gelte es, Lehren aus den Fehlern von früher zu ziehen. "Das Wichtigste ist, in den wirtschaftlich guten Jahren den Haushalt wieder zu konsolidieren", sagt er. Das sei den Politikern von heute auch bewusst.
Kromphardt hofft auf ein Revival des alten Briten – und auf ein Ende der Vorbehalte gegen Staatseingriffe, gerade in Deutschland. "Wenn wir mit keynesianischer Politik nun aus der Krise kommen, wird hoffentlich mehr Pragmatismus in die Debatte einziehen." Keynes selbst sah den Politikbetrieb ohne Illusionen. Er schrieb: "Wahnsinnige in hoher Stellung, die Stimmen in der Luft hören, zapfen ihren wilden Irrsinn aus dem, was irgendein akademischer Schreiber ein paar Jahre vorher verfasste."
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