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Die Arbeiterwohlfahrt (AWO), 1919 gegründet, ist eine der sechs Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Die traditionell sozialdemokratisch geprägte AWO beschäftigt hierzulande fast 240 000 Mitarbeitende und stützt sich ferner auf das Engagement von 83 000 Personen in 3400 Ortsvereinen.
© Andreas Klaer

Chef der Arbeiterwohlfahrt im Interview: „Jedes fünfte Kind ist von Armut bedroht“

Jens Schubert, Vorstandsvorsitzender der AWO, über eine Kindergrundsicherung, gute Pflege und einen starken Sozialstaat als Standortvorteil.

Herr Schubert, wie gefällt Ihnen der Bundestagswahlkampf?

Vieles spielt sich auf der Personality- Ebene ab, wir kommen erst langsam zu Inhalten. Es gibt Überschriften wie „Klima schützen“ oder „Sozialstaat erhalten“, doch die Umsetzung bleibt vage. Das sehen wir zum Beispiel bei den Kinderrechten, die uns sehr wichtig sind. Alle sind für das Kinderwohl, aber es gibt keine Diskussion über die Details einer Verbesserung.

Wie sollte die aussehen?
Dazu gehört ein institutioneller Teil – Kinderrechte ins Grundgesetz – und ein materieller Teil: die Kindergrundsicherung. Wir haben ein Konzept vorgelegt, immer mehr Parteien greifen das Thema auf. Jetzt müssen die Modelle ernsthaft in ihrer Wirkung diskutiert werden. Ungefähr jedes fünfte Kind wächst in Armut auf oder ist von Armut bedroht, das ist unglaublich in einem der reichsten Länder der Welt. Wir haben deshalb einen Grundsicherungsbetrag gestaffelt nach Einkommen vorgeschlagen, der bei 695 Euro beginnt und bei 330 Euro je Kind in einer wohlhabenderen Familie endet.

Was würde das kosten?
Mehrere Milliarden Euro.

Und das Geld verpulvern dann die Eltern.
Dieses Misstrauen ist schlicht falsch. Wir wissen aus Studien, dass Menschen, die Armutserfahrung haben, gerade keine Verschwender sind. Die meisten geben das Geld sehr wohl für ihre Kinder aus, zum Beispiel für Lehrmittel. In meinem Bundesland, wo es Lehrmittelfreiheit gibt, mussten wir gerade für zwei Kinder für mehr als 200 Euro zusätzliche Bücher und Materialien anschaffen. Für uns ist das nun kein Problem, doch viele Haushalte bringt das an Grenzen.

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Auch für solche Zwecke gibt es staatliche Unterstützung.
Die Betroffenen müssten sich an die entsprechenden Behörden wenden. Das machen aber viele nicht aus Scham oder Angst vor Stigmatisierung. Mit einer Kindergrundsicherung hätten wir das Problem nicht, und auch das ganze Gewürge zwischen Sozial- und Steuerrecht könnten wir uns sparen. Das Ziel der Kindergrundsicherung ist Chancengleichheit für alle Kinder, ganz egal, wie gut betucht das Elternhaus ist.

Warum müssen die gut Betuchten überhaupt Geld bekommen?
Bestimmte Kinder aus staatlicher Unterstützung auszuschließen, ist verfassungsrechtlich problematisch. Der Staat hat alle Kinder zu fördern.

Jens Schubert ist seit Anfang des Jahres Vorstandsvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Zuvor leitete der promovierte Jurist gut zehn Jahre die Rechtsabteilung von Verdi.
Jens Schubert ist seit Anfang des Jahres Vorstandsvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Zuvor leitete der promovierte Jurist gut zehn Jahre die Rechtsabteilung von Verdi.
© Doris Spiekermann-Klaas

Die AWO will eine Kindergrundsicherung, besser bezahlte Pflege, eine gerechte Corona-Lastenverteilung und einen sozialen Klimaschutz. Warum tauchen diese Themen kaum im Bundestagswahlkampf auf?
Wir haben im Wahlkampf eine Überlagerung verschiedener Dinge. Zum einen den Alltag mit Corona, zum anderen ist es eine sehr personenbezogene Wahl, weil die Amtsinhaberin nicht mehr antritt. Trotzdem sollten die genannten Themen eine viel größere Rolle spielen – gerade auch die Pflege.

Immerhin hat der Gesundheitsminister nun bei der Bezahlung der Pflegekräfte eine Orientierung an Tarifverträgen vorgeschlagen sowie eine Deckelung der Eigenanteile der Pflegenden.
Das geht zwar in die richtige Richtung und war übrigens auch maßgeblich beeinflusst durch den Arbeitsminister, doch es darf hinsichtlich der tariflichen Bindung nicht das Ende der Geschichte sein. Was die Deckelung betrifft: Sie ist eigentlich keine, sondern ein Zuschuss-Modell. Und die vorgesehenen Zuschüsse sind im ersten Jahr verschwindend gering und steigen erst im Laufe der Zeit. Wenn schon, müsste es wegen der Lebenserwartung umgekehrt sein. Ohnehin fordern wir eine feste, einheitliche und niedrige Deckelung, damit Pflegebedürftige ab dem ersten Tag dauerhaft entlastet werden.

Warum sollte ein Rentner oder Pensionär, der 3000 oder mehr Euro im Monat bezieht, davon nicht die Pflege zahlen?
Wer so hohe Renten hat, der lässt sich häufig zuhause pflegen. Wer wenig Geld hat, ist häufig in den stationären Einrichtungen. Für diese Menschen brauchen wir den Deckel.

"Das Soziale ist im Wahlkampf unterbewertet"

Sie halten die Pflege für eine der größten Baustellen unserer Zeit, trotzdem scheint das – und Sozialpolitik insgesamt – niemanden richtig zu interessieren.
Dieses Urteil wäre mir zu hart. Es wurde ja in der letzten Legislaturperiode doch einiges auf den Weg gebracht. Trotzdem ist das Soziale im Wahlkampf unterbewertet. Zwei andere Beobachtungen aus jüngerer Zeit: Die Familienministerin war bei den Corona-Entscheidungen nicht durchweg so eingebunden, wie es das Thema Familie verlangt hätte. Ein anderes Thema ist die ökologische Transformation. Die kann nur gelingen, wenn sie sozial flankiert ist. Das wird immer noch unterschätzt.

Wer soll das alles bezahlen, was die AWO sich so vorstellt?
Am Sozialen zu sparen, kostet langfristig deutlich mehr. Ohne einen starken Sozialstaat geht es nicht. Im Übrigen meine ich, dass man ernsthaft über Vermögens- und Erbschaftssteuer sprechen darf und eine neue Lastenverteilung zugunsten kleinerer Einkommen diskutieren sollte. Auch alternative Systeme wie die Bürgerversicherung sollten denkbar sein.

Für die es aber keine Mehrheit gibt.
Da bin ich mir nicht so sicher. Corona hat doch gezeigt, dass – salopp gesagt – der ganze Laden Deutschland nur läuft, wenn das Soziale funktioniert. Kitas, Schulen, Einrichtungen und Angebote aller Art sorgen dafür, dass einer Erwerbstätigkeit überhaupt beruhigt nachgegangen werden kann. Der Clou dabei: Sozialpolitik hat immer alle Bevölkerungsgruppen im Blick und kann zwischen verschiedenen Gruppen und Generationen vermitteln.

Wie denn?
Wir überlegen derzeit, die Arbeit von Seniorenorganisationen mit dem Jugendwerk der AWO in Verbindung zu bringen. Ein Gegeneinander zwischen Alt und Jung hilft uns nämlich nicht weiter. Ob Sie Rente nehmen, Bildung, Klima, Gesundheit – in vielen Bereichen sollten wir die gar nicht gegenläufigen Interessen von jüngeren und älteren Menschen verbinden.

"Wir wollen Alte und Junge verbinden"

Das ist eine schöne Aufgabe für die Freie Wohlfahrtspflege.
Ja, wir sehen zum Beispiel bei der Quartiersarbeit, wie das Soziale vor Ort erlebbar wird. Entscheidend ist, dass alle Menschen in den Quartieren ihr Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen können. Dabei unterstützen wir etwa mit Angeboten für Menschen mit Behinderungen, Migrationsgeschichte, oder beispielsweise auch in der Schuldenberatung.

Wie nehmen Sie als neuer AWO-Chef die Wertschätzung der Freien Wohlfahrtspflege hierzulande wahr?
Wer sich in einer Situation wiederfindet, in der Hilfe nötig wird, lernt uns kennen und schätzen. Ohne diesen persönlichen Bezug ist die Wohlfahrtspflege oft weniger präsent. Dabei wirken wir an der Umsetzung des Sozialstaatsversprechens nach Artikel 20 des Grundgesetzes maßgeblich mit. Deshalb sollten übrigens gemeinnützige Wohlfahrtsverbände in den Sozialgesetzbüchern und beim Beihilferecht anders als private Anbieter behandelt werden, zumal Gewinnorientierung nicht unser Antrieb ist.

Mit Ausnahmen. Bei der AWO in Hessen, Thüringen und Mecklenburg gab es Korruption und Selbstbedienung.
Sie haben Recht, auch wenn die Fälle sehr unterschiedlich sind. Für die unzähligen aufrichtig Engagierten ist das eine echte Last und es macht auch die AWO nicht aus. Wir führen Verfahren gegen die Beschuldigten und fordern Geld zurück. Wir haben Kündigungen ausgesprochen, Teams neu strukturiert und die bestehenden Compliance-Regeln verschärft.

Wie konnte das überhaupt passieren?
Wenn es jemand auf Betrug anlegt, ist es schwierig. Vertrauen wurde missbraucht. Jedenfalls haben wir mit veränderten Regeln reagiert.

Welche sind das?
Durch die neuen Regularien werden die Aufsichtsgremien früher eingebunden. Geschäftliches Handeln und Gehälter müssen ab einer bestimmten Größenordnung gemeldet beziehungsweise abgestimmt werden.

Die Arbeit der AWO wird auch von rund 83 000 Ehrenamtlichen geleistet, aber das werden immer weniger. Wie wollen Sie diesen Trend stoppen?
Zunächst hat die AWO über 300 000 Mitglieder und wird vom Ehrenamt getragen. Sprechen Sie von 83 000, dann sind das die freiwillig Engagierten. Den Trend, den Sie beschreiben, nehmen wir natürlich wahr und reagieren – mit guten Projekten, guter Arbeit und neuen Formen des Mitmachens.

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