Le Havre: Kleinod dank Wiederaufbau: Wohlbefinden im Gleichmaß
Wiederaufbauwerkstatt: Le Havre besticht mit Welterbe-Architektur und praktischen Typengrundrissen.
Eine Woche vor der Befreiung von der deutschen Besatzung wurde Le Havre Anfang September 1944 von den Flugzeugen der Alliierten mit 14 000 Tonnen Bomben dem Erdboden gleichgemacht. Die Hafenstadt an der weiten Mündung der Seine hatte nach insgesamt 132 Angriffen während der vier Jahre der Besatzung 5000 Tote zu beklagen, dazu 80 000 Obdachlose bei 12 500 zerstörten Gebäuden auf einer Fläche von 150 Hektar Stadtzentrum und Hafengebiet.
Der Wiederaufbau wurde zu einer nationalen Angelegenheit. Er dauerte zwanzig Jahre, bis er 1964 offiziell für abgeschlossen erklärt wurde. Doch das alte Le Havre kehrte nicht wieder. Es entstand eine weitgehend neue Stadt. Und auch die unterlag seither tiefgreifenden Wandlungen. Wenn jetzt, im Jahre 2017, den ganzen Sommer über der 500. Gründungstag der vom französischen König Franz I. per Dekret zum Hafen erkorenen Stadt gefeiert wird, dann wird an eine nahezu nirgends mehr sichtbare Geschichte erinnert. Sichtbar hingegen ist die Wiederaufbauleistung der Nachkriegsjahrzehnte. Die aber ist so besonders, dass die Innenstadt mittlerweile zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde.
Auch anderenorts gab es große Pläne und kühne Entwürfe, um Kriegszerstörungen zu überwinden. In Le Havre jedoch gelang es einem einzigen Architekten, die Stadt nach seinen Vorstellungen zu formen. Auguste Perret, einer der Großen der französischen Architektur der ersten Jahrhunderthälfte, doch zum Zeitpunkt der Befreiung bereits 70 Jahre alt, war nach 1900 als Wegbereiter der Moderne und Pionier des Betonbaus hervorgetreten. In den dreißiger Jahren allerdings wurde er stilistisch zunehmend konservativ, dem Zeitgeist der späten Dritten Republik entsprechend, der auf eine neue Monumentalität zielte.
Wiederaufbau für den Nationalstolz
Perret hatte die Politik auf seiner Seite, als er 1945 zum Chefarchitekten ernannt wurde und einen sehr klassischen Plan für Le Havre vorlegte, der sich im Straßengrundriss an die Stadterweiterung des 19. Jahrhunderts hielt. Damals hatte sich der Hafen sukzessive weit über die alten, viel zu klein gewordenen Becken hinaus ausgedehnt, wurde nördlich der verwinkelten Altstadt die Neustadt in orthogonalem Straßenraster angelegt. Perret behielt die großen Plätze und Sichtachsen bei, entwarf ein mächtiges Rathaus, säumte die beiden sich kreuzenden Hauptstraßen mit regelmäßigen Geschossbauten, denen an herausragenden Stellen einzelne Hochbauten von bis zu 13 Stockwerken als Akzente beigegeben waren, immer hübsch symmetrisch auf beiden Seiten wie bei der Porte Océane, dem „Tor zum Meer“.
Das große Problem jedoch war die furchtbare Wohnungsnot. Viele Jahre lang mussten Teile der Bevölkerung, vor allem der im Hafen beschäftigten Arbeiter, in Notunterkünften hausen. So stand am Anfang des Wiederaufbaus die Schaffung von Geschosswohnungsbauten. Doch Perret und seine bereits 1944 gegründete „Wiederaufbauwerkstatt“, in der zahlreiche seiner Schüler die konkrete Entwurfsarbeit der einzelnen Häuser leisteten, legten auf die gestalterische Qualität größten Wert. Einerseits verordnete Perret ein einheitliches Raster von 6,24 Metern für alle Bauten, um durch standardisierte Verfahren schneller und kostengünstiger bauen zu können; und ohnehin war der leicht verfügbare Beton das Baumaterial schlechthin. Andererseits entwarfen die Architekten auch aus diesem „billigen“ Material Säulen und Kapitelle, Gesimse und Fenstergewände in feinen Proportionen, wie Perret sie selbst nun schon seit Jahren an der konservativen École des Beaux-Arts in Paris lehrte.
Eine Sensation aber ist der Typengrundriss, den Perret für die Sozialwohnungen entwickelte – denn Wohnungen für Werktätige waren sie, weit entfernt vom großbürgerlichen Habitus, den der Perret der Vorkriegszeit gepflegt hatte.
Architektonische Zeitreise
In einem der frühesten Wohnhäuser, 1947 begonnen und 1950 bezogen, ist mittlerweile eine Musterwohnung eingerichtet, die dem Zeitgeschmack und den haustechnischen Möglichkeiten der späten fünfziger Jahre entspricht. Die im Rahmen des Unesco-Weltkulturerbes zu besichtigende Wohnung ist für eine vierköpfige Familie ausgelegt – und zählt bei nur rund 95 Quadratmetern fünf Zimmer! Das kleinste allerdings weist gerade einmal sieben Quadratmeter auf, das größte – das Wohnzimmer – misst immerhin deren 22. Drei Räume auf der Hofseite des Gebäudes und ebenso gut belichtet wie die der Frontseite, sind als Schlafzimmer gedacht, wobei das größere der beiden Kinderzimmer dem Nachwuchs zugleich als Spielzimmer dient.
Dabei ist der Grundriss, so wie er in der Musterwohnung zu besichtigen ist, nur eine Möglichkeit: Denn es gibt keine tragenden Innenwände. Lediglich eine Betonsäule im allseitigen Rasterabstand von besagten 6,24 Metern steht unverrückbar in der Wohnung; allerdings im Eingangsbereich, der frei in den Wohnbereich übergeht. Der wiederum ist direkt mit der Küche auf der einen und einem Studio auf der anderen Seite verbunden, wo jeweils Faltwände zu öffnen sind und den Raum praktisch und vor allem optisch vergrößern. Die Leichtbauwände können versetzt oder gänzlich eingerissen werden, je nach den Bedürfnissen der Bewohner – von denen viele aus der Pionierzeit auch heute noch in ihren Wohnungen leben.
Das Badezimmer – ein absolutes Novum für die übergroße Mehrheit der Nachkriegsbewohner! – ist als gefangener Raum ausgebildet, zwischen zwei Zimmern gelegen, die Toilette befindet sich nicht darin, sondern ist in einem eigenen Kämmerlein vom Flur aus erreichbar. Man wird damals nicht viel Besitz unterzubringen gehabt haben; für großvolumige Schränke reicht der Platz nicht, alles ist auf praktische Mehrfachnutzung, Zusammenlegbarkeit, auf tägliches Improvisieren und Ändern ausgerichtet. Die Zimmer der Museumswohnung sind mit Möbeln damaliger Designer ausgestattet, wie Marcel Gascoin oder André Baudouin, und man kommt aus dem Staunen nicht heraus vor so viel Ideenreichtum und zugleich praktischem Pfiff. Die Wohnzimmersitzgruppe von René Gabriel stammt gar von 1946, steht also unmittelbar am Beginn des Wiederaufbaus, und natürlich sollten sich die künftigen Bewohner bereits 1949 durch Besuch einer Musterwohnung auf ihr künftiges Lebensumfeld einstimmen; man denkt als Berliner Besucher an die „Interbau '57“ im Hansaviertel, wo die Musterwohnungen ebenfalls der Renner waren.
Lebensqualität auf kleinem Raum
Die Küche der heutigen Museumswohnung ist vielleicht ein bisschen zu sehr mit den aufkommenden Haushaltsgeräten der spätfünfziger Jahre angefüllt – einem riesigen Kühlschrank, der ersten Waschmaschine, einem Dampfkochtopf und sogar einem Joghurtbereiter –, als dass man das schon für den Lebensstandard einer Durchschnittsfamilie halten könnte. Viel wichtiger sind die Hinweise der patenten Museumsführerin auf die Luftheizung durch Kanäle in abgehängten Deckenteilen – die Räume sind ihrer Grundfläche entsprechend unterschiedlich hoch, was für ein genialer Kniff! – und eben auch das Vorhandensein von Badewanne und fließend warm Wasser als dem wahren Luxus der neuen Zeit.
Alle Fenster sind nach Pariser Art bodentief ausgebildet; die ersten Bauten haben die typische schmale, französische „Raustrete“, spätere Wohnhäuser – sie sind alle einheitlich und doch verschieden – weisen zum Teil Balkone auf, und auch daran mussten sich die Bewohner erst noch gewöhnen. Vorder- und Rückfassaden sind mit gleicher Sorgfalt ausgebildet, die zur Sonne hin offenen, gut belüfteten Höfe sind wahre Oasen. Aufzüge gibt es erst in Häusern ab vier Geschossen, bis dahin müssen die Bewohner über allerdings bequeme Treppen steigen.
Eingebunden in die Gemeinschaft
In den Erdgeschossen sah Perret zumeist Ladengeschäfte vor, darüber ein Mezzanin für die Angestellten wie in den Pariser Bauten des Baron Haussmann, die ihrerseits eine alte Tradition fortführten; und doch besteht Ähnlichkeit mit der gleichzeitigen, ultramodernen Rotterdamer Einkaufsstraße Lijnbaan.
Wenn man sich ansieht, was in den sechziger und siebziger Jahren an der Peripherie französischer Städte an logements sociaux, an Sozialwohnungen hochgezogen wurde, dann stechen die Bauten Perrets und seiner Mitarbeiter durch ihre außergewöhnliche Qualität hervor. Qualität in allem: im Entwurf, dem Grundriss, in der Ausführung und in zahllosen, durchdachten Details. Nicht jeder wird in einer rechtwinklig geordneten, gleichförmigen Stadt wie Le Havre wohnen mögen. In den Wohnungen selbst jedoch ganz gewiss. Und wenn man sieht, wie wohlgestaltet und gepflegt innerstädtische Plätze und Parkanlagen sind, mag man glauben, dass sich in solch öffentlicher Schönheit das Wohlbefinden der Stadtbewohner spiegelt.
Le Havre, Musterwohnung (L'Appartement témoin), 181 rue de Paris. Informationen unter www.lehavretourisme.com/de
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