Berliner Quartiere (1) - Kreuzberg: Kreuzberg rückt wieder ins Zentrum
Kreuzberg hat sich zur beliebten Wohngegend entwickelt. Aus dem Problemkiez ist ein Anziehungspunkt für Investoren geworden. Mieten und Kaufpreise steigen rasant. Altmieter sehen es mit Sorge.
Diese Gelegenheit will sich die Rentnerin aus dem Wohnhaus am Fraenkelufer nicht entgehen lassen. Der Regierende Bürgermeister hat sich zum Bezirksbesuch angemeldet, und so schildert sie Klaus Wowereit im Gemeindehaus der Christuskirche in der Dieffenbachstraße ihre Sorgen: Bis zu 1200 Euro würden bei der Neuvermietung einer 100-Quadratmeter-Wohnung im Graefekiez verlangt. „Und wir Altmieter“, sagt die Dame, „sind der Störfaktor. Man würde uns am liebsten raushaben.“
Die ältere Frau ist nicht die Einzige, die sich Gedanken über ihre Wohnsituation macht. Denn manche Kieze von Kreuzberg, die vor nicht allzu langer Zeit noch mit sozialen Problemen Schlagzeilen machten, haben sich in letzter Zeit zu angesagten Wohnorten entwickelt – mit der Folge, dass Mieten und Kaufpreise deutlich gestiegen sind. Es drohe deshalb, sagt ein Vertreter einer Mieten-AG auf der Veranstaltung im Gemeindehaus, eine Homogenisierung der Bevölkerungsstruktur: „Bald werden hier nur noch Mittelschichtangehörige wohnen, und es wird keine Kreuzberger Mischung mehr geben.“
Tatsächlich stiegen 2009 die Mieten im Gesamtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg bei Neuvermietungen um 7,2 Prozent und damit stärker als in allen anderen Berliner Bezirken, wie es im Wohnmarktreport der Wohnungsbaugesellschaft GSW heißt. Laut einer Studie des Beratungsunternehmens Bulwien Gesa schossen die Preise für neu errichtete Eigentumswohnungen in Kreuzberg zwischen 2003 und 2009 um 30 Prozent in die Höhe. In ausgesuchten Lagen von Kreuzberg, hält denn auch Bulwien-Gesa-Projektleiter André Adami fest, ergäben sich „für Projektentwickler enorme Vermarktungspotenziale“.
Und die Investoren sind gewillt, diese Potenziale zu heben. So errichtet die Hochtief-Projektentwicklung in der Fontanepromenade, mitten im beliebten Graefekiez, einen Neubau mit 31 Wohnungen, die dank Geothermieanlage einen besonders geringen Energieverbrauch aufweisen. Das kommt offenbar an – zum Zeitpunkt des Richtfests im Juli waren bereits drei Viertel der Einheiten zum Preis von knapp 3000 Euro pro Quadratmeter verkauft.
Ganz anders gelagert ist das Vorhaben gleich um die Ecke, im Karree zwischen Urban-, Grimm- und Dieffenbachstraße. Im alten Urbankrankenhaus schafft die Baugruppe „Am Urban“ 120 – längst vergebene – Wohnungen. Es ist eine Wohnanlage für Menschen, die Wert darauf legen, sich in ein Gemeinschaftsprojekt einzubringen, gleichzeitig aber auch den Preis von rund 2200 Euro pro Quadratmeter verkraften können. „In etwa 80 Prozent der Wohnungen ziehen Familien mit Kindern ein“, sagt Birgit Blancke, Mitarbeiterin im Architekturbüro Graetz, welches das Vorhaben initiiert hat. Der Abschluss der Bauarbeiten ist für Mitte 2011 geplant.
Noch größer ist das Projekt, das in den nächsten Jahren auf einem 30 000 Quadratmeter großen Grundstück an der Yorckstraße/Möckernstraße Realität werden soll: Am Rand des neu entstehenden Gleisdreieck-Parks plant die Initiative Möckernkiez auf genossenschaftlicher Basis den Bau eines Stadtquartiers mit 385 Wohnungen, das barrierefrei und energieeffizient konzipiert sein soll.
Dass Wohnungen in Kreuzberg begehrt sind, zeigt auch das Viktoria-Quartier, also das Areal der ehemaligen Schultheiss-Brauerei an der Methfesselstraße. Dort hat die Baywobau laut Niederlassungsleiterin Birgit Freitag bereits für über die Hälfte der 131 Wohnungen im jüngsten Bauabschnitt, dem Brauhofgarten, Käufer gefunden. Noch verblüffender ist der Vermarktungserfolg der Prinz von Preussen Grundbesitz AG, die das denkmalgeschützte Tivoli-Gebäude im Viktoria-Quartier zu einem Wohngebäude umbauen will und gerade einmal eine Woche brauchte, um alle 59 Wohnungen für durchschnittlich 3450 Euro pro Quadratmeter an Kapitalanleger zu veräußern.
Angelockt werden die Bewohner nicht zuletzt durch das Umfeld. Vom Viktoria-Quartier aus ist es nur ein Spaziergang bis zur Bergmannstraße, die beispielhaft für die Veränderung Kreuzbergs steht: Vor wenigen Jahren noch von Trödelläden geprägt, reihen sich jetzt Schmuckgeschäfte, Modeateliers und Coffeeshops aneinander. Am Marheinekeplatz hat sich die neu gestaltete Markthalle mit ihren regionalen und ökologischen Spezialitäten etabliert, und sonnabends bummelt das umweltbewusste Kreuzberger Linksbürgertum über den Ökomarkt auf dem Chamissoplatz – meist ohne sich bewusst zu sein, dass der Erhalt der intakten Gründerzeitbebauung der umliegenden Straßen nur dem Häuserkampf der siebziger und achtziger Jahre zu verdanken ist.
Weniger revolutionär als früher geht es auch im östlichen Teil Kreuzbergs zu. Vor allem rund um das Schlesische Tor hat sich eine Club-, Café- und Ladenszene mit großer Ausstrahlungskraft entwickelt. Gleichzeitig sind die an der Spree gelegenen Gewerbehöfe ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus dem Jahr 2007 arbeiten fast 20 Prozent aller Berliner Kreativwirtschaftler im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. „Jeder dritte Euro, der im Bezirk erwirtschaftet wird, stammt aus der Kreativwirtschaft“, fasst Wirtschaftsstadtrat Peter Beckers das Ergebnis zusammen.
Von der Aufbruchbewegung am Schlesischen Tor nicht profitieren konnte allerdings die IVG mit ihrem Projekt Neue Spreespeicher: An der Schlesischen Straße/Ecke Cuvrystraße, wo eigentlich schon lange ein großer Bürokomplex stehen sollte, erstreckt sich noch immer eine riesige Brache. Gebaut wird dagegen am May-Ayim-(früher Gröben-)Ufer: Im Rahmen des Programms Stadtumbau West wird dort die Uferanlage neu gestaltet, wovon sich der Bezirk eine weitere Aufwertung des Kreuzberger Spreeraums erhofft.
Den größten Handlungsbedarf sieht Wirtschaftsstadtrat Beckers jedoch in der südlichen Friedrichstraße. Impulse gehen dabei von der ehemaligen Blumengroßmarkthalle aus, die sich jetzt unter Federführung des Architekten Daniel Libes- kind in einen Erweiterungsbau des Jüdischen Museums verwandelt. Im Umfeld gibt es weitere 12 700 Quadratmeter Fläche, mit deren Vermarktung der Liegenschaftsfonds Berlin auf der Immobilienmesse Expo Real im Oktober beginnen will. Dafür gibt es auch schon detaillierte Nutzungsvorstellungen: Das vom Land Berlin geförderte Projektbüro Kreativquartier Südliche Friedrichstadt schlägt vor, die Grundstücke nicht nach dem Höchstgebot zu vergeben, sondern darauf Kultur- und Bildungseinrichtungen anzusiedeln und so „einen bisher fehlenden kulturellen und sozialen Identifikationsort als Motor der Quartiersentwicklung“ zu schaffen.
Kreuzberg bleibt also in Bewegung. Und manche Investoren projizieren schon die kühnsten Bilder an die Wand: „Kreuzberg“, verbreitet die im Viktoria- Quartier aktive Prinz von Preussen AG in einer Pressemitteilung, „ist Magnet für moderne und solvente Kosmopoliten und Kreative aus der Medien-, Film- und Modebranche.“ Und Unternehmensvorstand Theodor J. Tantzen prognostiziert gar, dass „in den kommenden zehn bis 20 Jahren die Preise das Niveau von Paris und London erreichen könnten“.
Das bezweifeln zwar viele Fachleute – doch den Sorgen der Rentnerin im Gemeindehaus in der Dieffenbachstraße wird eine solche Aussage neue Nahrung geben.