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IT-Zentrum statt Umschlagplatz für Waren: die alte Hafenstadt Stettin
© Ulrike von Leszczynski dpa

Osteuropa: Hungriger Nachbar

Polen hat sich zu Berlins zweitwichtigstem Absatzmarkt entwickelt. Das Land bietet gut ausgebildete Fachkräfte und eine schnell wachsende Tech-Branche.

Die PSI AG war früh dran: Schon 2004 hat das Unternehmen eine Tochterfirma im polnischen Posen gegründet – um sich nach einer schweren Krise neue Perspektiven zu schaffen: "Wir wollten uns von einem rein deutschen Auftragsprogrammierer zu einem internationalen Softwareanbieter entwickeln und Angebote für bestimmte Nischen produzieren", sagt Karsten Pierschke, der bei PSI die Bereiche Investor Relations und Kommunikation leitet.

Zu diesen neuen Märkten gehörten China und Russland, aber eben auch der gar nicht so weit entfernte und trotzdem von vielen übersehene Nachbar Polen, "eine auch zu Zeiten der Finanzkrise 2008 wachsende Volkswirtschaft mit 40 Millionen Einwohnern".

Karsten Pierschke von der PSI AG
Karsten Pierschke von der PSI AG
© Promo/ PSI AG

Heute entwickelt PSI Software für Energieversorger, Industrieunternehmen und Infrastruktur-Betreiber. Am Standort Posen sind rund 190 Mitarbeiter beschäftigt. „Durch unser frühes Handeln konnten wir viele gut ausgebildete Fachkräfte gewinnen, die an der Universität Posen studiert haben“, sagt Karsten Pierschke. Darunter seien viele Informatiker. Zu den polnischen Kunden von PSI zählen Nahverkehrsversorger und der Automobilzulieferer Matec.

Polen und Deutschland, vor allem die Region Berlin-Brandenburg, haben sich in den vergangenen Jahren wirtschaftlich immer stärker miteinander vernetzt. Für Berlin ist der östliche Nachbar seit 2013 das zweitwichtigste Exportland (nach den USA und vor China), das aktuelle Handelsvolumen liegt nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 1,12 Milliarden Euro. Bei den Einfuhren nach Berlin belegt Polen derzeit den dritten Platz (1,09 Milliarden Euro).

Förderprogramme sollen diese Entwicklung verstärken: Zum Beispiel die 2006 gestartete und durch EU-Mittel geförderte Oder-Partnerschaft – die unter anderem deutsche und polnische Firmen aus der Tech-, Games- oder Modebranche zusammenbringen will. Bei PSI hat man auf eine solche Unterstützung komplett verzichtet: "Wir haben das alles in Eigeninitiative geleistet", sagt Karsten Pierschke.

Adam Formanek koordiniert das deutsch-polnische "Lookout"-Projekt
Adam Formanek koordiniert das deutsch-polnische "Lookout"-Projekt
© Promo/Lookout

Seit 2014 engagiert sich auch der SIBB, der Verband der IT- und Internetwirtschaft Berlin und Brandenburg, für den Austausch zwischen der Hauptstadtregion und den polnischen IT-Zentren Krakau, Stettin, Warschau und Breslau. "Lookout" heißt das Projekt, das ebenfalls Teil der Oder-Partnerschaft ist. Koordiniert wird es von Adam Formanek, der regelmäßig Unternehmerreisen nach Polen organisiert. Ihm fällt immer wieder auf, wie überrascht viele Teilnehmer sind: "Die polnische IT-Branche ist sehr jung. Sie existiert erst seit 1989, aber sie hat sich rasend schnell entwickelt. Die Fachkräfte sind exzellent ausgebildet, die Start-up-Szene ist extrem lebendig", sagt Formanek. Insgesamt arbeiteten dort 430.000 Menschen im IKT-Bereich.

Formanek bringt polnische und deutsche Kollegen auch für einzelne Aufträge zusammen: "Wir vermitteln kompetente Ansprechpartner in Polen, wenn einem unserer Mitgliedsunternehmen Ressourcen für die Fertigstellung von Projekten fehlen." Diese Teams kooperierten sehr gut miteinander, seit 2014 nehme die Zusammenarbeit zu.

Nur die wirtschaftlichen Beziehungen haben sich verbessert

Allerdings möchte keines der beteiligten Berliner Unternehmen darüber reden, dass es dieses Angebot in Anspruch nimmt. Vielleicht aus Angst, den Eindruck zu vermitteln, man sei personell nicht gut genug aufgestellt. Oder eben, weil die Qualifikation der polnischen Fachkräfte in Berlin noch nicht ausreichend bekannt ist. Denn normalerweise haben IT-Firmen kein Problem damit, einzuräumen, dass sie einzelne Projektteams durch externe Kräften aufstocken.

So sehr sich die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Deutschland und Polen verbessert haben, so wenig kann man darüber hinwegsehen, dass die politischen Beziehungen zwischen Warschau und Berlin stark abgekühlt sind. Die rechtskonservative Regierungschefin Beata Szydło (Partei Recht und Gerechtigkeit/PiS) geht auf deutlichen Abstand zu Deutschland – und nicht nur zu dessen Flüchtlingspolitik. Kann sich diese politische Eiszeit negativ auf den Handel auswirken, oder sind Produkte und Dienstleistungen Made in Germany beziehungsweise Made in Berlin sozusagen immun gegen politische Krisen? Adam Formanek ist optimistisch: "Die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Polen boomen zum Glück weiterhin." Auch Karsten Pierschke von der PSI AG hat bislang  keine negativen Konsequenzen festgestellt.

Dagmara Jajesniak-Quast leitet an der Viadrina in Frankfurt (Oder) das Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien
Dagmara Jajesniak-Quast leitet an der Viadrina in Frankfurt (Oder) das Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien
© Heide Fest

Diese Meinung teilt auch Dagmara Jajesniak-Quast. Die Wirtschaftswissenschaftlerin und Wirtschaftshistorikerin leitet an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) das Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien. Sie verweist auf den aktuellen Entwicklungsplan des polnischen Vizeministerpräsidenten und für Wirtschaft und Finanzen zuständigen „Superministers“ Mateusz Morawiecki. Er fordert, dass die Wirtschaft stärker „der Nation dienen“ müsse und polnisches Kapital im eigenen Land investiert werden solle. „Doch die politische Situation hat auf der Handelsebene trotzdem keine negativen Auswirkungen“, sagt Jajesniak-Quast.

Jeder zweite Pole arbeitet in Firmen mit ausländischer Beteiligung

Für die polnische Seite scheint die wirtschaftliche Kooperation ohnehin längst viel selbstverständlicher zu sein – aus ganz unterschiedlichen Gründen: "Die Polen sind nach wie vor hungrig nach Konsumgütern und Investitionen", sagt Jajesniak-Quast. Zudem ziehe es viele vor allem junge Warschauer, Breslauer oder Krakauer nach Berlin. Und schließlich arbeite jeder zweite Pole in Firmen mit ausländischer Beteiligung.

Und jede deutsche Investition führe zur nächsten: Ein gutes Beispiel dafür ist der Bushersteller Solaris, der sozusagen in Gegenrichtung zur PSI AG unterwegs ist. Solaris hat seinen Hauptsitz in Posen, ist aber auch in Berlin und Brandenburg aktiv.

Besonders stark angestiegen ist in den vergangenen Jahren die polnische Nachfrage nach Berliner Mineralölerzeugnissen – eine Folge des Russland-Ukraine-Konflikts. Dagmara Jajesniak-Quast kann sich gut vorstellen, dass diese Nachfrage bestehen bleibt. "Die Energiesicherheit steht auf der Agenda aller polnischen Regierungen ganz oben." Es gebe ein großes Interesse daran, die Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten wie etwa Russland weiter zu verringern.

In einer Branche muss die Wirtschaftswissenschaftlerin dann aber doch eine Verschlechterung des Handelsklimas feststellen: bei den erneuerbaren Energien. Denn die amtierende polnische Regierung hat die Entwicklung neuer Windkraftanlagen durch ihre Gesetzgebung ausgebremst. "Die Investoren standen in den Startlöchern, doch jetzt warten sie lieber erst einmal ab." 

Von Rita Nikolow

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