Ernährung in der Welt: Hunger ist auch in Deutschland ein wachsendes Problem
Es wäre genug für alle da: Am Freitag startet in Berlin die Internationale Grüne Woche. Dazu treffen sich wieder rund 70 Agrarminister aus aller Welt. Ihr zentrales Thema: Ernährungssicherheit. Dieses Ziel liegt noch sehr fern.
- Maris Hubschmid
- Christian Tretbar
- Sandra Weiss
- Elke Windisch
- Wolfgang Drechsler
Es ist nicht besser geworden. Aufrichtigerweise kann man höchstens sagen: etwas weniger schlimm. Und selbst das ist eine Frage der Betrachtung. Zwar ist der Anteil hungernder Menschen auf der Welt seit 1990 um 39 Prozent gesunken – die Vereinten Nationen hatten sich zum Ziel gesetzt, sie bis 2015 zu halbieren –, in absoluten Zahlen leiden heute aber sogar mehr Menschen an Hunger als vor 25 Jahren. Mit wachsender Erdbevölkerung steigt die Zahl derer, die zu kurz kommen. Etwa 805 Millionen Menschen, heißt es beim Verein Welthungerhilfe, sind chronisch unterernährt. Alle zehn Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen von Hunger.
Agrarminister treffen sich auf der 80. Grünen Woche
Wenn am kommenden Freitag in Berlin zum 80. Mal die Internationale Grüne Woche eingeläutet wird, reisen wieder Landwirtschafts- und Ernährungsexperten aus unterschiedlichsten Nationen an – darunter zahlreiche Agrarminister. Bereits zum siebten Mal findet das GFFA, das Global Forum For Food and Agriculture, parallel zur Messe in Berlin statt. Rund 180 Minister werden jedes Jahr eingeladen, stets sagen 60 bis 70 zu. Das Motto des diesjährigen Gipfels lautet: „Wachsende Nachfrage nach Nahrung, Rohstoffen und Energie: Chancen für die Landwirtschaft, Herausforderung für die Ernährungssicherung?“
Vielerorts bessert sich die Lage – doch das schafft neue Ansprüche
Klar ist: Hunger ist ein Problem der Verteilung. Auf diesem Planeten wächst genug Nahrung für alle, in westlichen Ländern werden täglich tonnenweise Lebensmittel weggeworfen. Klar ist auch: Vielerorts entwickelt sich die Lage zum Guten, so etwa in Ghana, Thailand oder Vietnam. Mittelfristig jedoch schafft das neue Ansprüche und Probleme. „Biotreibstoffe, Lebensmittelspekulationen, Landraub – all das hat Auswirkungen auf die Verfügbarkeit und die Preise von Lebensmitteln“, sagt Ernährungsmediziner Hans Konrad Biesalski, Direktor am Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Hohenheim. Aber Mangelernährung ist kein Phänomen, das auf Entwicklungsländer beschränkt ist. „Auch in Industrieländern werden Menschen krank, weil ihnen Nährstoffe fehlen.“ Sechs Korrespondenten beschreiben, wie es um die Ernährung in verschiedensten Regionen der Welt bestellt ist.
USA
Im kargen, kalten Montana liegt die Rate der drastisch übergewichtigen US-Amerikaner bei 19,6 Prozent. Auf 35,4 Prozent ist sie dagegen bereits im Bundesstaat Mississippi gestiegen. Wie eine Umfrage des Forschungsinstituts Gallup zeigt, haben sich die meisten vom Ziel des gesünderen, schlankeren Lebens auch längst abgewendet – sie essen wieder weniger gesund und bewegen sich immer seltener. „Hungrige“ Gesichter in den Vereinigten Staaten sind fetttriefend, zuckerstarr, ohne ausreichende Nährstoffversorgung. Auch, weil gesunde, frische Lebensmittel eine Frage des Geldes sind. 14,3 Prozent der Menschen fehlt das häufig. Und 5,6 Prozent haben nicht einmal im reichen Amerika immer genug, sich überhaupt ausreichend zu versorgen. Während die einen also aufwendige Salate und frisch gepressten Orangensaft für viel Geld bei „Wholefoods“ kaufen, kennt ein relevanter Teil der US-Bevölkerung auch Hunger – darunter Millionen Kinder. Wie das Gesundheitsministerium aufführt, leben 15,8 Millionen Kinder unter 18 Jahren in Haushalten, in denen der Zugang zu nahrhaftem Essen nicht immer gewährleistet ist. Am schlimmsten ist die Lage in New Mexico, Mississippi, Arizona und Georgia. Spendenorganisationen sammeln deshalb unter dem Motto: „No kid hungry“.
Barbara Junge, Washington
Mexiko
In den Bergen des südmexikanischen Bundesstaates Chiapas kann es im Winter eisig kalt werden. Auf dem Tisch stehen Maistortillas, Mousse aus schwarzen Bohnen, Salz und Chilischoten; zum Trinken gibt es selbst gerösteten Kaffee. Mehr haben die Familien nicht. Chiapas gehört zu den ärmsten Bundesstaaten des Landes; ein Drittel der Kinder sind chronisch unterernährt. 600 Kilometer weiter nördlich, in Oaxaca, drängen sich Schulkinder in den Pausen am Kiosk, kaufen Chips, Cola und Kekse. Viele sind pummelig. Innerhalb einer Generation ist die Mehrheit der Mexikaner von der Unterernährung in die Fettleibigkeit gerutscht. Dazu beigetragen haben steigende Kaufkraft, die Ausbreitung des US-Lebensstils inklusive Fastfood-Ketten – und eine laxe Regierung. Sieben von zehn Erwachsenen und jedes dritte Kind sind übergewichtig,
Diabetes ist inzwischen Volkskrankheit. Das kostet den Staat Milliarden, der nun endlich reagiert hat: 2014 trat eine Steuer auf Junkfood und Softdrinks in Kraft.
Sandra Weiss, San Andrés
Deutschland
Bei uns muss niemand hungern – dieser Satz stimmt so leider nicht. Zwar ist chronische Unterernährung in Deutschland heute äußerst selten, doch die Menschenrechtsorganisation FIAN hat beobachtet, dass immer mehr Menschen in Deutschland nicht in der Lage sind, sich „angemessen und in Würde zu ernähren“. Besonders betroffen sind Kinder aus Hartz-IV-Haushalten, Rentner und Flüchtlinge. Die Tafeln feiern in diesem Jahr ihr 20-jähriges Bestehen. Es ist ein trauriges Jubiläum. „Dabei geht es nicht nur darum, satt zu werden, sondern darum, gesund zu bleiben“, sagt Ernährungswissenschaftler Hans Konrad Biesalski von der Uni Hohenheim. „Viele Deutsche leiden unter verstecktem Hunger.“ Ein Mangel an wichtigen Nährstoffen kann zu Konzentrationsschwächen, Wachstumsstörungen und Krankheiten führen. Die körperlichen und geistigen Folgen sind oftmals unumkehrbar. Das schadet nicht nur den Betroffenen, sondern auch der ganzen Gesellschaft, weil die Produktivität sinkt und der Bedarf an Sozialleistungen steigt. Biesalski kritisiert: „Im Armutsbericht der Bundesregierung wird das Problem der ungesunden Ernährung von Kindern zwar erwähnt, aber nicht weiter erörtert“.
Maris Hubschmid, Berlin
So ist die Lage in Russland, China und dem Südsudan
Russland
Ein Hungerland ist Russland nicht. Reiche und auch der Mittelstand versorgten sich vor der Einfuhrsperre für westliche Lebensmittel in Supermärkten, die so gut sortiert waren wie in Europa. Der Speisezettel der Masse ist traditionell überschaubar und besteht aus Variationen heimischer Grundnahrungsmittel. Dazu gehören neben Brot und Kartoffeln vor allem Teigwaren, Graupen und andere Dickmacher. Hoch ist auch der Zuckerkonsum. Mehr als die Hälfte aller Russen hat daher Übergewicht und daraus resultierende Leiden. Ganzjährig als Vitaminspender verfügbar sind neben Äpfeln nur Kohl, Möhren und Gurken sowie Rote Bete, häufig aus eigenem Anbau und für den Winter sauer eingelegt. Eiweißlieferanten sind in erster Linie Milchprodukte – Fleisch und Fisch können sich nicht alle Menschen in Russland täglich leisten. Weil die russische Landwirtschaft unrentabel produziert und die Wege weit sind, müssen Russen für Lebensmittel – bei erheblich geringerem Einkommen – oft den gleichen Betrag hinblättern wie Verbraucher in Deutschland. Rein statistisch muss Iwan Normalverbraucher daher satte 40 Prozent seines Monatsverdienstes für Essen ausgeben. Rentner noch mehr.
Elke Windisch, Moskau
China
China hat das Hungerproblem aus der Anfangsphase der Volksrepublik in den vergangenen Jahren vollständig hinter sich gelassen. Einige internationale Organisationen geben zwar noch einen niedrigen Prozentsatz an unterernährter Bevölkerung an, doch das durchaus vertrauenswürdige „Weißbuch zur Armutsbekämpfung“ der chinesischen Regierung hat das Ende einer mangelhaften Grundversorgung bereits 2011 ausgemacht. Das entspricht dem Augenschein bei Reisen durch das ländliche China. Auch die untersten Bevölkerungsschichten haben am hohen Wachstum zumindest so viel teil, dass sie sich genug zu essen und ein Handy leisten können. Dafür hat das reiche China neue Probleme: Die Zahl der ernährungsbedingten Diabetes-Erkrankungen ist von einem Prozent im Jahr 1980 auf zuletzt über elf Prozent hochgeschossen. In den Städten wird Übergewicht von Kindern zu einer ernsten Bedrohung für die Gesundheit. Schuld ist der Lebensstil mit vielen Süßigkeiten und Schnellimbissbesuchen bei wenig Bewegung und viel Lernstress.
Finn Mayer-Kuckuk, Peking
Südsudan
Es ist eine Hungersnot mit Ansage: Seit mehr als einem Jahr tobt im erst vor 30 Monaten unabhängig gewordenen Südsudan ein erbitterter Bürgerkrieg zwischen den beiden größten Stämmen des Landes. 2,5 Millionen Menschen, heißt es beim Welternährungsprogramm, wissen derzeit nicht, wie sie das neue Jahr überleben sollen. In weiten Teilen des Landes liegen die Felder brach. Mit Beginn der Trockenzeit dürften nun auch die Kämpfe wieder aufflammen, die durch den Regen und die unpassierbar gewordenen Straßen unterbrochen worden waren. Trotz aller Bemühungen westlicher Hilfsorganisationen bleibt die Lage verheerend: Viele der rund eine Million durch den Krieg vertriebenen Kinder ernähren sich nach Auskunft des UN-Kinderhilfswerks bereits jetzt überwiegend von den Wurzeln von Wasserlilien. Nirgendwo ist ein Ende des sinnlosen Mordens in Sicht, das bereits jetzt mindestens 50 000 Menschenleben gekostet hat. Vieles deutet darauf hin, dass im jüngsten Staat der Welt erst noch etliche weitere durch Krieg und Hunger sterben müssen, ehe Regierung und Rebellen womöglich Frieden schließen.
Wolfgang Drechsler, Kapstadt