Lehman-Pleite: Gorillas am Abgrund
Heute vor zwei Jahren ging Lehman Brothers pleite und erschütterte die globale Finanzwelt. Andrew Sorkin erzählt, wie es war.
Berlin - Was macht ein Banker, wenn die Welt um ihn herum im Chaos zu versinken droht? Colm Kelleher, Finanzchef der Investmentbank Morgan Stanley, spielt auf seinem Blackberry eine Runde Brick Breaker, ein Computerspiel, bei dem man Mauern mit Kugeln kaputt schießt. Es ist Samstag, der 13. September 2008. In der Notenbank von New York haben sich die mächtigsten Banker des Landes versammelt, um zu beraten, wie man die drohende Pleite von Lehman Brothers abwenden kann. Sie rechnen fast zwei Tage und zwei Nächte. Während einer Pause beginnt Kelleher das Spiel. Schnell machen die Banker ein Turnier daraus, mit Punktevergleich. Am Montagmorgen meldet Lehman Insolvenz an.
So erzählt es Andrew Ross Sorkin in seinem Buch „Die Unfehlbaren“. Der Reporter der „New York Times“ war bei der Krisensitzung nicht dabei, genauso wenig wie bei allen anderen Gesprächen, die Banker, Politiker und Aufsichtsbehörden im Herbst vor zwei Jahren hinter geschlossenen Türen führten, um zu verhindern, dass aus der Krise auf dem amerikanischen Hypothekenmarkt ein Flächenbrand wird. Er hat mit 200 Leuten gesprochen, E-Mails und Gesprächsprotokolle studiert. Dabei herausgekommen ist eine mehr als 500 Seiten lange Dokumentation der Ereignisse rund um die Lehman-Pleite – eine „Chronik des Versagens“, wie der Autor im Vorwort schreibt. Sie liest sich wie ein Thriller.
Sorkin nimmt die Leser mit in die meist holzvertäfelten Büros, in denen Deals eingefädelt, Gesetze geschmiedet oder Leute gefeuert werden. Er nimmt sie mit bis in die Schlafzimmer der Banker, wo sie ihren Frauen von Ängsten erzählen, die sie tagsüber nie zugeben würden. Das ist das Spannende an „Too big to fail“, wie das Buch im Original heißt. Es geht nicht nur um Banker und Boni, es geht um die Menschen, die hinter dem System stecken. Für Sorkin sind es „Menschen, die glauben, sie wären zu groß, um scheitern zu können“.
Die tragische Figur ist Richard Fuld, der Chef von Lehman Brothers, auch genannt Gorilla, der bis zum Schluss nicht glauben will, dass seine Bank untergehen wird. Auch sein privates Vermögen steckt in Lehman-Aktien. Er hat es aufs Spiel gesetzt, als er verbriefte Schrottkredite aufkaufte. „Fuld wusste um die Risiken, aber er konnte sie nicht an sich vorüberziehen lassen, alle machten das, die Gewinne waren zu groß“, schreibt Sorkin.
Der Autor wertet nicht, er beschreibt. Und entlarvt dabei viele Schwächen. Wie ein trotziges Kind macht Fuld nicht sich selbst, sondern Spekulanten für den sinkenden Aktienkurs von Lehman verantwortlich. Ständig verdächtigt er einen Konkurrenten, mit Leerverkäufen auf die Pleite seiner Bank zu wetten. „Es kommt mir vor, als würde ich Maulwürfe jagen!“, ruft er einmal verzweifelt. Als ein Journalist ihn auffordert, eine Kampagne gegen die Leerverkäufe zu starten, winkt Fuld aber schnell ab. Es scheint, als würde ihm erst jetzt bewusst, dass auch seine Bank ihr Geld mit Spekulation verdient.
Von Reue aber hat Sorkin in seinen Interviews keine Spur gefunden. „Am beunruhigendsten ist vielleicht, dass das Ego an der Wall Street immer noch eine zentrale Rolle spielt“, schreibt er im Nachwort zu seinem Buch. „Was im gegebenen Umfeld auch heute noch fehlt, ist ein echtes Gefühl der Demut.“ Und woher soll es kommen? Die Banker bewegen sich nur unter Ihresgleichen. Es ist ein kleiner elitärer Zirkel aus lauter Hanks, Dicks und Gregs. Man kennt sich von der Uni, oder weil man mal gemeinsam bei Goldman Sachs gearbeitet hat. Wie der damalige Finanzminister Hank Paulson, der vor seinem Amtsantritt viele Jahre Chef der mächtigsten Investmentbank der Welt gewesen war.
Es ist auch Paulson, der am Ende entscheidet, Lehman pleitegehen zu lassen. Keine Bank ist bereit, den Konkurrenten zu kaufen, ohne dass der Staat die Risiken übernimmt. Der Präsident aber will vermeiden, dass es so aussieht, als würde der Staat gescheiterten Bankern unter die Arme greifen. Paulson, der weiß, dass Lehman nur der Anfang ist, dass AIG, der weltgrößte Versicherer, am Rande des Abgrunds steht, versucht alles, um einen Käufer zu finden. Nach einer gescheiterten Verhandlung mit einem Investor ruft er einmal: „Er ist ein Giftmischer! Es geht ihm nicht um die Rettung des Landes!“ Als ob es an der Wall Street jemals um die Rettung des Landes ging. Es geht ums Gewinnen, immer noch.Miriam Schröder