Das Geschäft mit den Wundermitteln: Gesünder, fitter, länger leben – wirklich?
Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente: Nahrungsergänzungsmittel sind gefragt wie nie. Doch kaum einer braucht sie, und manche Mittel sind sogar schädlich.
Neulich, in der Apotheke. Eine betagte, etwas gebrechlich wirkende Dame hat Kummer. Die Kräfte lassen nach, sagt sie, alles falle ihr schwerer als früher. Ob es denn nicht Mittel gebe, die ihr wieder auf die Beine helfen?, fragt sie den Apotheker.
Klar gibt es die, versichert ihr der junge Mann hinter dem Tresen und kehrt gleich mit einem ganzen Sortiment bunter Schachteln voller Nahrungsergänzungsmitteln zurück. „Vitasprint“ empfiehlt er, „das regeneriert die roten Blutkörperchen“, oder „Vitagamma“, „das enthält Vitamin D, gut für starke Knochen“.
Für Fitness im Kopf rät er zu „Orthomol Mental“. „Das verkaufen wir oft“, betont der Mann, „haben Sie schon mal von Orthomolekularer Medizin gehört?“ Das hat die Kundin zwar nicht, aber dennoch schlägt sie zu. Vor allem nachdem ihr der Apotheker versichert, dass all die Mittel auf gar keinen Fall schaden können. Sie verlässt die Apotheke, um drei Packungen reicher und 122,89 Euro ärmer.
Nahrungsergänzungsmittel sind freiverkäufliche Produkte, die (Mikro-) Nährstoffe (etwa Bierhefe, Algen), Vitamine, Mineralstoffe, Eiweiße, Fettsäuren, Ballaststoffe oder sonstige Substanzen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung in konzentrierter Form enthalten. Angeboten werden sie in Tabletten- Tropfen- oder Pulverform, dennoch sind sie keine Arznei-, sondern Lebensmittel.
Ein wissenschaftlicher Nachweis, dass die Mittel wirken und gesundheitlich undenklich sind, ist vor ihrer Markteinführung nicht nötig. Sie müssen lediglich beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) registriert werden – und sie müssen sicher sein. Im Unterschied zu Arzneimitteln dürfen ihre Hersteller aber nicht damit werben, dass die Präparate Krankheiten heilen, lindern oder verhüten.
Ob Falten, Haarausfall oder Alzheimer - die Mittel versprechen Abhilfe
Dennoch scheinen die Nahrungsergänzungsmittel wahre Wundermittel zu sein. Ob Falten oder Haarausfall, Gelenkbeschwerden, Muskelaufbau, Alzheimer, Infektanfälligkeit oder Erschöpfung: Im breiten Angebot findet sich für jeden etwas, ob jugendlicher Selbstoptimierer oder altersgebeugte Witwe. Für die Gesundheit scheut man keine Ausgaben.
Längst haben Medizin, Pharmazie, Wellness- und Fitnessanbieter diesen Trend aufgegriffen und sind zu einem mächtigen Konglomerat verführerischer Lifestyleangebote verschmolzen. Sie zielen auf eine ebenso tiefe wie verständliche Sehnsucht der Menschen: Ein Leben in jugendlicher Schönheit und Leistungsfähigkeit, frei von Schmerz und Angst, Stress und Müdigkeit, Hinfälligkeit, Abgeschlagenheit und Lustlosigkeit.
Nahrungsergänzungsmittel als Helfer gewinnen an Bedeutung, erkennbar an jährlichen Zuwachsraten von fünf Prozent und mehr als 5000 Neuanmeldungen beim BVL allein im Jahr 2017. In Apotheken, Drogerie- und Supermärkten warten Mineralstoffe, Vitamine, Enzyme, Wurzel-, Kräuter-, Pilzextrakte, Diät- und anderer Mittelchen auf Käufer.
Ein Drittel der Bundesbürger folgt dem Kaufaufruf und schluckt – immer häufiger, immer mehr: 2018 gaben deutsche Verbraucher 1,43 Milliarden Euro für Nahrungsergänzungsmittel aus, rund 100 Millionen Euro mehr als im Vorjahr. Zwei Drittel gingen auf das Konto von Apotheken, die 40 Prozent aller Nahrungsergänzungsmittel verkaufen.
Gesetzlich sind Arznei- und Nahrungsergänzungsmittel streng voneinander geschieden, faktisch ist das aber keineswegs der Fall. Allein durch die Darreichungsform (Tablette, Trinkampulle) wird die Nähe zum Arzneimittel deutlich. Zudem sind Vitamine einerseits bei bestimmten Erkrankungen als Arzneimittel ärztlich verschreibungsfähig, andererseits kommen sie auch als Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt.
So sind etwa Propolispräparate („das antibiotische Kittharz aus dem Bienenstock“) einerseits als Arzneimittel („Zirkulin-Halspastillen“) erhältlich, andererseits – bei gleichem Wirkstoffgehalt und nahezu identischer Aufmachung – auch als Nahrungsergänzungsmittel („Zirkulin-Husten-Pastillen“). Hinzu kommt die Platzierung der Mittel in den Regalen von Apotheken und Supermärkten. Hier gibt es im Regal mit den vermeintlichen „Arzneimitteln“ eine bunte Mischung der Nahrungsergänzungsmittel mit (frei verkäuflichen) Arzneimitteln.
Die meisten Menschen brauchen solche Mittel nicht
Allerdings räumen Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln ein, dass Menschen mit ausgewogener Ernährung die Mittel wohl gar nicht benötigen. „Wer sich gesund ernährt, auf ausreichend Bewegung achtet und keine Beschwerden hat, braucht unsere Produkte nicht“, räumt der Orthomol-Hersteller Nils Glagau ein. Aber auf wen treffen diese drei Bedingungen schon zu?
Und was ist mit Menschen, die krank sind: „Wir versprechen keine Allheilmittel, sondern setzen auf die Begleitung von ärztlichen Therapien“, sagt Glagau. Aber möchte man nicht alles Mögliche für seine Gesundheit tun? Ist nicht jedes Mehr an Therapie ein Gewinn? Ein ebenso populärer wie unausrottbarer Irrtum, der unsere Vitaminomanie auf den Punkt bringt.
Insbesondere vier verbreitete Substanzgruppen – Vitamine, Antioxidantien, Immun- und Ayurvedapräparate – versprechen, unterlegt mit vermeintlichem „Expertenwissen“, Hilfe im Alltag: Vorbeugung chronischer Erkrankungen; Stärkung des Immunsystems, Verzögerung des Alterungsprozesses und die Verbesserung der körperlichen und mentalen Performance.
Eine ausgewogene Ernährung reicht
Für die Gesundheit eines jeden Menschen ist die Zufuhr von Vitaminen und Spurenelementen uneingeschränkt notwendig. Allerdings ist sie bei ausgewogener Ernährung und ausreichendem Aufenthalt im Freien – die Sonne hilft bei der Vitamin-D-Bildung – sichergestellt. Das belegen etliche evidenzbasierte wissenschaftliche Studien, das betonen auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin und das Bundesinstitut für Risikobewertung.
Allein Schwangere und Stillende sowie chronisch Kranke und Veganer bedürfen der Substitution, wenn auf natürlichem Weg ihre ausreichende Aufnahme nicht sicherzustellen ist. Völlig paradox ist die Situation bei Rauchervitaminen. Das Deutsche Ärzteblatt berichtete schon 2008, dass die in ihnen enthaltenen Betacarotine, Vitamin E und Selen das Lungenkrebsrisiko keineswegs senken, sie erhöhen es vielmehr!
Diverse hochrangige Studien aus den USA belegen, dass weder die Vitamine A, C, D und E noch Mineralien oder Fischölkapseln kardiovaskulären Erkrankungen vorbeugen oder ihre Therapie günstig beeinflussen. Gleiches gilt für Krebserkrankungen. Ein Eingreifen der FDA, der obersten Lebens- und Arzneimittelüberwachungsbehörde der USA, fordern namhafte US-Ärzte: „Unsere Bevölkerung füllt ihre Toiletten mit teurem Urin und überantwortet ihr Schicksal wertlosen und zuweilen gefährlichen Versprechen in Pillen- und Tropfenform.“
Denn ein Überangebot an wasserlöslichen Vitaminen scheidet der Körper stets über die Nieren aus (gelber Harn bei Vitamin-B-Einnahme), eine übermäßige Zufuhr von fettlöslichen Vitaminen (A, D und E) speichert er mit der möglichen Folge eines erhöhten Krankheitsrisikos, etwa für Nierensteine bei einer Überdosierung von Vitamin D.
Antioxidantien bildet der Körper selbst
Antioxidantien, sogenannte „Radikalenfänger“, bezeichnen eine heterogene Stoffgruppe (darunter Vitamine A, E und C, Selen, Polyphenole, Carotinoide), die im Körper anfallende und ihn schädigende hoch reaktive Sauerstoffverbindungen (Radikale) neutralisieren.
Vermarktet werden sie als „aktiver Zellschutz“ und vorbeugende Mittel für zahllose Erkrankungen, unter ihnen Tumore, Demenz und sportbedingte Muskelschmerzen. Aber: Antioxidantien, die unser Körper zweifellos benötigt, bildet er zum Teil selbst, zum Teil sind sie in allen gängigen Nahrungsmitteln vom Kaffee bis zum Gemüse in Hülle und Fülle enthalten! Weder verringern Antioxidantien sportbedingte Muskelbeschwerden, wie in 50 Studien nachgewiesen werden konnte, noch beugen sie der Alzheimer-Demenz vor, wie seriöse Studien darlegen konnten. Und nicht nur das: Für Antioxidantien gilt ähnliches wie für Vitamine: „Grundlagenwissenschaftliche Untersuchungen legen zumindest nahe, dass eine hochdosierte Supplementierung mit Antioxidantien bei bestimmten Tumoren, wie Melanomen und Lungenkarzinomen, die Tumorprogression und Metastasierung verstärken kann“, sagt Professor Wilhelm Bloch von der Deutschen Sporthochschule Köln.
Auch Ayurveda-Präparate, die sich als „reine Naturarzneien“ verstehen, erfreuen sich großer Beliebtheit. Vor ihnen kann aber nicht eindringlich genug gewarnt werden: Seit 1978 wurde in mehr als 80 Studien nachgewiesen, dass ihnen toxische Mengen an Blei, Quecksilber und Arsen zugesetzt werden, berichtet das renommierte medizinische Journal Lancet. Die Konzentration überschreitet laut Weltgesundheitsorganisation WHO die Maximalbelastung im Blut bis zum Achtfachen – Substanzen, die von der Weltgesundheitsorganisation allesamt als krebserregend eingestuft sind.
Was ist Orthomolekulare Medizin?
Bleibt die Orthomolekulare Medizin, die auch der Kundin in der Apotheke empfohlen worden ist. Ihr Wegbereiter war der im Alter von 92 Jahren verstorbene Nobelpreisträger Linus Pauling, auch bekannt als Erfinder der längst widerlegten „Megavitamintherapie“ mit Vitamin C zur Vorbeugung von Erkältungskrankheiten. Gern wird er - da auch "mit 92 noch geistig frisch" - als der beste Beweis für den Erfolg orthomolekularer Medizin bezeichnet. Mit nicht weniger "Evidenz" jedoch könnte die Tabakindustrie einen gesunden 90-jährigen Raucher als Beweis für die Unschädlichkeit von Tabak heranziehen.
Die Therapie basiert auf einer Kombination zahlreicher Mikronährstoffe. „Orthomol“ kommt in insgesamt 29 Varianten als Allzweckwaffe daher – etwa als „Orthomol immun“, „-natal“, „-mental“, „-beauty“, „-femin“, „-arthro“, „-fertil“. Noch Fragen? Die beantwortet Professor Peter Sawicki, langjähriger Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG): „Orthomol immun hat weder als Einzelstoff noch als Kombination eine Wirkung bei der Prävention von Erkrankungen“. Und das Arzneitelegramm urteilt: „Angesichts des nicht nachgewiesenen Nutzens sowie gravierender Bedenken raten wir von Produkten der orthomolekularen Medizin ab.“
Eine milliardenschwere Industrie befeuert mit uneinlösbaren Versprechen die Heilserwartungen Gesunder wie Kranker. Ein Markt, der auf Hoffnungen setzt. Doch die erfüllen sich vor allem für die Hersteller. Der Markt für Nahrungsergänzungsmittel wächst seit Jahren.
Die Verkäufer
Die Umsätze mit gesundheitsfördernden Pillen und Pulvern steigen, der größte Teil entfällt auf Vitamine und Mineralstoffe. Nach Erhebungen des Statistikdienstleisters Iqvia machen diese beiden Gruppen rund die Hälfte des Umsatzes aus. Mehr als 41 Prozent der Umsätze entfällt auf Drogeriemärkte wie dm oder Rossmann und Co, gefolgt von Supermärkten und Versandapotheken.
Die Hersteller
Der Markt ist zersplittert. Die Top-20-Hersteller stehen gerade einmal für 51 Prozent des Umsatzes und nur knapp 38 Prozent des Absatzes. Neben der Klosterfrau-Gruppe (Taxofit) gehören auch Merz Pharma (Tetesept) und Bayer zu den bekannten Anbietern.
Michael de Ridder ist Internist und hat jahrelang die Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses in Berlin geleitet.
Michael de Ridder