Bundesbank-Präsident Jens Weidmann im Interview: "Flüchtlinge werden demographisches Problem nicht lösen"
Die Krise bei VW, die Integration von Flüchtlingen und das billige Geld im Euro-Raum: Bundesbank-Präsident Jens Weidmann spricht im Interview über die Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft.
Herr Weidmann, die Welt ist in Unordnung. China schwächelt, es gibt neue Hiobsbotschaften aus Griechenland, die US-Notenbank Fed traut sich nicht, die Zinsen anzuheben, und Deutschland tut sich schwer mit dem Zustrom von Flüchtlingen. Was davon macht Ihnen am meisten Angst?
Für Schwarzmalerei sehe ich keinen Anlass. Was zum Beispiel die Weltwirtschaft angeht, so erholt sie sich weiter, wenn auch etwas weniger dynamisch, als das vor kurzem noch erwartet wurde …
Woran liegt das?
Zum einen liegt es an der Schwäche der Rohstoff exportierenden Länder, die sich mit fallenden Ausfuhrerlösen konfrontiert sehen. Zum anderen hat sich die Wirtschaft in China abgekühlt. Das sehe ich aber nicht als Vorboten eines Konjunktureinbruchs, sondern als Folge des Übergangs zu einem nachhaltigeren Wachstumsmodell.
Was meinen Sie damit?
Chinas Wachstum hing in der Vergangenheit von massiven Investitionen – zeitweise machten sie beinahe die Hälfte der Wirtschaftsleistung aus – und dem Export von Industriegütern ab. Damit wurden in der Vergangenheit Wachstumsraten von zehn Prozent oder mehr erzielt, aber auf Dauer ist das nicht nachhaltig. Inzwischen hat sich die Wirtschaft weiterentwickelt, hin zu mehr konsumorientierten Dienstleistungen. Das geht zwar mit geringeren Wachstumsraten einher, ist aber insgesamt eine willkommene Normalisierung.
Trotz der Börsenkrise und der Kurseinbrüche an den chinesischen Märkten?
In China hat der Aktienmarkt für Unternehmen und Verbraucher bei weitem nicht die Bedeutung, wie man das aus entwickelten Volkswirtschaften gewohnt ist. Das heftige Auf und Ab seit Mitte 2014 hat daher nicht im selben Maße auf die Konjunktur durchgeschlagen. Aber natürlich gibt es Risiken in China, keine Frage. Denken sie etwa an die Unternehmensverschuldung, die in den vergangenen Jahren stark gestiegen ist. Zu einem vollständigen Bild der Weltwirtschaft gehört aber auch, dass sich die Industrieländer derzeit ganz solide entwickeln und so die Weltwirtschaft stabilisieren.
Was ist mit Deutschland? Die VW-Krise weitet sich aus, die Deutsche Bank hat den höchsten Quartalsverlust ihrer Geschichte eingefahren. Wie ernst ist das?
Laut dem Ifo-Konjunkturtest für Oktober haben sich Lage und auch Ausblick des Automobilsektors sogar verbessert. Insofern gibt es bislang keine Anhaltspunkte dafür, dass der Abgasskandal von VW die gesamte Branche runterzieht. Allerdings dürfte der VW-Skandal dazu führen, dass die Branche insgesamt strenger beaufsichtigt werden wird. Für den Zustand der deutschen Wirtschaft sind weder VW noch die Deutsche Bank repräsentativ.
Wie ist es dann um die deutsche Wirtschaft bestellt?
Deutschland steht gut da. Wir haben einen recht kräftigen Aufschwung und einen hohen Beschäftigungsstand, auch wenn sich das Wachstumstempo im zweiten Halbjahr etwas abgeschwächt haben dürfte. Auch im Euro-Raum ist der Aufschwung da – zwar moderat, aber er wird sich fortsetzen. Und in den USA ist die Konjunktur robust genug, dass dort über einen Ausstieg aus der ultraexpansiven Geldpolitik diskutiert wird.
Warum die EZB nicht am Rockzipfel der US-Notenbank hängt
Bisher hat die Fed viel angekündigt, aber wenig getan. Rechnen Sie mit einer Zinserhöhung im Dezember?
Ich spekuliere nicht darüber, wie die Kollegen entscheiden werden. Die Fed hat jedenfalls klar gemacht, dass eine Zinserhöhung kommt. Wann sie letztlich vollzogen wird, ist nicht so entscheidend.
Traut Ihre Kollegin Janet Yellen dem amerikanischen Aufschwung doch nicht so recht über den Weg oder nimmt sie Rücksicht auf die Schwellenländer, die befürchten müssten, dass nach einer Zinserhöhung Kapital von ihnen abgezogen wird und in die USA fließt?
Jede Notenbank hat ihr eigenes Mandat und muss die darin definierten Ziele verfolgen. So muss die Fed sowohl die Inflation als auch die Arbeitslosigkeit in den USA im Auge behalten, bei uns ist es ausschließlich die Preisstabilität im Euro-Raum. Angesichts der Abschwächung in Teilen der Weltwirtschaft war in den USA zuletzt die Unsicherheit darüber gestiegen, wie stabil der heimische Aufschwung sein wird und mit welchem Schwung sich die Erholung am Arbeitsmarkt fortsetzt.
Wenn die Fed die Zinsen erhöht, muss die Europäische Zentralbank folgen?
Die Geldpolitik des Eurosystems hängt nicht am Rockzipfel der Fed, auch wenn es, über einen langen Zeitraum betrachtet, einen recht engen Zinsverbund zwischen den beiden Währungsräumen gibt. Erst wenn die Konjunkturerholung im Euro-Raum weiter vorankommt und die Preise stärker anziehen, können auch im Euro-Raum die Leitzinsen wieder angehoben werden.
Noch sieht es aber nicht nach einer Angleichung aus. Wie lange können sich die Geldpolitik in Europa und den USA auseinander entwickeln, bevor die Märkte für eine Annäherung sorgen?
Irgendwo muss der Druck entweichen. Entweder beim Kurs der Währungen oder beim Zinssatz. Wenn der Zins im Euro-Raum niedrig bleibt, kommt der Euro unter Abwertungsdruck, wie wir das seit nunmehr gut einem Jahr erleben.
Es wird darüber spekuliert, dass die EZB im Dezember eine Ausweitung ihres Anleihenkaufprogramms beschließen könnte. Dann würde die Schere zwischen Europa und USA noch weiter auseinander gehen.
Die Fed ist auf dem Weg zu einer geldpolitischen Straffung, die EZB auf absehbare Zeit nicht. Daran wird sich auch im Dezember nichts ändern.
Die Inflation im Euro-Raum ist praktisch null, EZB-Chef Mario Draghi sieht das mit Sorge. Müssen wir mit einer weiteren geldpolitischen Billiggeldoffensive rechnen?
Die Volkswirte im Euro-System arbeiten im Moment an neuen Prognosen, und der EZB-Rat wird dann entscheiden, was zu tun ist. Dabei ist nach wie vor zu berücksichtigen, dass die sehr geringe Inflationsrate nicht zuletzt Folge niedriger Energiekosten und insoweit ein vorübergehendes Phänomen ist. Hinzu kommt, dass im Euro-Raum die günstiger importierte Energie die Kaufkraft von Unternehmen und Verbrauchern stärkt. Die Firmen können mehr investieren, die Konsumenten mehr kaufen, das stützt bereits die Nachfrage. Und: Wenn man volatile Elemente wie die Energiepreise herausrechnet, liegt die Inflation bei einem Prozent.
Die EZB strebt aber zwei Prozent an …
Auf mittlere Sicht, denn die gegenwärtige Inflationsrate können wir nicht mehr beeinflussen. Und mittelfristig steigen die Preise wieder stärker, wie alle derzeit vorliegenden Prognosen zeigen.
Warum Mario Draghi nicht alles falsch gemacht hat
Aber was könnten Sie denn überhaupt noch tun? Die Zinsen sind praktisch bei null, die EZB kauft jeden Monat für Milliarden Euro Anleihen auf und überschwemmt die Banken mit billigem Geld. Das ist wie bei einem Arzt, der sämtliche Antibiotika verordnet hat und nun hofft, dass der Patient nicht wieder einen Rückfall bekommt.
Die Geldpolitik hat auf den schwersten Wirtschaftseinbruch in der Nachkriegsgeschichte reagiert und sie bleibt weiterhin handlungsfähig. Dennoch müssen wir sehen, dass die Wirksamkeit der ultralockeren Geldpolitik mit der Dauer abnimmt und gleichzeitig die Risiken und Nebenwirkungen wachsen. Hier denke ich zum Beispiel an Übertreibungen auf den Finanzmärkten und an die Probleme für Lebensversicherungen. Auch darf das Euro-System nicht zum Gefangenen der Politik werden. Wir Notenbanker müssen aus der expansiven Geldpolitik aussteigen können, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, und zwar auch dann, wenn sich die Politik daran stört, weil dadurch die Zinslast für die Staatsschulden steigt.
Spötter sagen: Im EZB-Rat diskutieren 25 Mitglieder, und am Ende entscheidet Mario Draghi.
Natürlich hat der EZB-Präsident eine hervorgehobene Rolle, aber am Ende entscheidet der EZB-Rat im Konsens oder mehrheitlich. Wie Sie sicherlich beobachtet haben, verlaufen die Diskussionen teilweise kontrovers und manche Entscheidung fällt daher am Ende anders aus als vielleicht ursprünglich gedacht.
Ach ja?
Natürlich. Nehmen Sie zum Beispiel das Anfang des Jahres beschlossene Staatsanleihenkaufprogramm. Dass jede Notenbank nur Staatsanleihen ihres eigenen Landes kauft und im Wesentlichen keine Gemeinschaftshaftung für Staatsschulden über die Notenbankbilanz herbeigeführt wird, geht auf die Diskussion im EZB-Rat zurück.
Dass die Bundesbank jetzt nur deutsche Anleihen kauft, ist also ein Verdienst von Jens Weidmann?
Wie gesagt: Das Programm ist das Ergebnis einer intensiven Diskussion im Rat. Trotz dieser Anpassungen sehe ich die zunehmende Verflechtung von Geld- und Fiskalpolitik aber mit Sorge.
Sie gelten als einer der größten Kritiker Draghis. Aber Sie sagen selbst, die Wirtschaft im Euro-Raum hat sich erholt. Vielleicht war also doch nicht alles falsch, was Draghi gemacht hat? Oder ist die Euro-Krise noch gar nicht vorbei?
Dass wir in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie diesen um den richtigen Weg aus der Krise ringen, ist doch nicht überraschend. Und ich stimme in vielen Punkten mit Mario Draghi überein. So sind wir uns völlig einig, dass zur Bewältigung der Krise vor allem Strukturreformen in den betroffenen Ländern notwendig sind. Denn es geht ja nicht nur um konjunkturelle Probleme, sondern um Fehlentwicklungen und Übertreibungen, auch im Finanzsektor. Die Notenbanken können diese Probleme nicht lösen. Der Schlüssel zur Lösung der Euro-Krise liegt bei der Politik.
Inwiefern?
Indem sie die Grundlagen für stärkeres, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, für ein widerstandsfähiges Finanzsystem und für dauerhaft solide Staatsfinanzen schafft. Gerade solide Staatsfinanzen sind, wie die Krise gezeigt hat, eine Voraussetzung für eine stabile Währungsunion und letzten Endes auch für stabiles Geld.
Warum Flüchtlinge nicht nur ein Wirtschaftsfaktor sind
Führt die Flüchtlingskrise nicht dazu, dass die Stabilitätskriterien aufgeweicht werden müssen?
Nein. An Flexibilität im Stabilitäts- und Wachstumspakt mangelt es nun wirklich nicht. Die Regeln erlauben es, außergewöhnlichen und überraschenden Belastungen einzelner Länder Rechnung zu tragen.
Aber überfordert der Flüchtlingsstrom nicht die Finanzen vieler Länder?
Außerordentlich hohe Flüchtlingszahlen und entsprechende Zusatzkosten betreffen nur wenige Länder, Deutschland zum Beispiel, aber auch Österreich und Schweden. Ich sehe vielmehr das Problem, dass immer wieder nach Begründungen gesucht wird, den von vielen ungeliebten Stabilitäts- und Wachstumspakt auszuhebeln. Dafür sollte man das Flüchtlingsthema nicht missbrauchen.
Die Flüchtlingsfrage wird sehr kontrovers diskutiert. Es gibt eine große Hilfsbereitschaft in Deutschland, aber auch wachsende Besorgnis, ob Deutschland mit der Integration der Flüchtlinge gesellschaftlich und finanziell überfordert ist. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble möchte keine neuen Schulden machen. Aber ist die schwarze Null noch zu halten?
Die Situation jetzt zeigt doch gerade, wie wichtig es ist, im Haushalt Puffer zu haben, um Unvorhergesehenes bewältigen zu können. Im Moment sehe ich bei allen Unsicherheiten keinen Grund, die schwarze Null schon abzuschreiben.
Die Unterbringung der Flüchtlinge beschert einigen Branchen gute Geschäfte. Ökonomen sprechen sogar von einem Konjunkturprogramm für die Wirtschaft.
Wir dürfen dieses Thema nicht nur mit Blick auf seine wirtschaftlichen Effekte betrachten. Die Flüchtlingszuwanderung ist eine Herausforderung für die Gesellschaft, die über das Wirtschaftliche weit hinausgeht. Meistern lassen wird sie sich nur, wenn es gelingt, diejenigen, die bleiben werden, zu integrieren. Hierzu müssen kulturelle und sprachliche Barrieren überwunden und unsere Werteordnung respektiert werden. Eine Schlüsselrolle bei der Integration in die Gesellschaft spielt der Arbeitsmarkt. Aller Erfahrung nach wird es aber Zeit brauchen, bis die Flüchtlinge im Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben, und vielfach ist zunächst das Bildungssystem gefordert. Im Ergebnis könnten die Flüchtlinge dann allerdings dazu beitragen, unsere demographischen Probleme zu mildern. Lösen werden sie sie aber nicht.
Warum Sparer auf steigende Zinsen warten müssen
Vor der Flüchtlingsdebatte war Griechenland das beherrschende Thema. Nun gibt es dort neue Probleme. Reformen wurden nicht rechtzeitig umgesetzt, Hilfsgelder nicht ausgezahlt. Auch von einem Schuldenschnitt ist schon wieder die Rede. Wie realistisch ist das?
Es zeigt sich, dass man mit Rettungsgeldern Zeit kaufen kann, die Probleme aber im Land selbst angegangen werden müssen. Um nachhaltiges Wachstum zu erzielen, muss Griechenland seine Verwaltung modernisieren, die Wirtschaft muss wettbewerbsfähiger werden – und die dortigen Entscheider müssen hinter diesen Reformen stehen und sie vorantreiben. Sonst kann das Land nicht auf die Beine kommen. Das ist der zentrale Punkt, nicht der Schuldenstand. Denn das Aussetzen der Tilgung und niedrige Zinsen haben längst dazu geführt, dass die Schuldenlast Griechenlands geringer ist als die manch anderer Euro-Länder. Erfolg können nur Reformen bringen. Und hier ist noch viel zu tun.
Wann können sich die deutschen Sparer wieder auf bessere Zeiten freuen?
Natürlich ist die Verzinsung auf sichere Spareinlagen derzeit historisch niedrig, aber die Inflationsrate eben auch. Worauf es ankommt, ist der Ertrag nach Abzug der Geldentwertung. Wenn man alle Finanzanlagen der Deutschen nimmt, also zum Beispiel auch Aktien, Investmentfondsanteile und Ansprüche gegenüber Lebensversicherern, und den inflationsbedingten Wertverlust herausrechnet, kommt man für die Zeit zwischen 2008 und Anfang 2015 im Schnitt auf eine Rendite von gut 1,5 Prozent. Das ist allerdings deutlich weniger als in der Vergangenheit. Darin spiegelt sich eben auch wider, dass die vergangenen Jahre im Euro-Raum wirtschaftlich schwierig waren und die Inflationsaussichten gedämpft. In dem Maße, in dem sich dies ändert und die Geldpolitik wieder straffer werden kann, werden auch die Zinsen wieder steigen.
Wie legt denn die Bundesbank ihr Geld an?
Das sogenannte Eigenportfolio der Bundesbank besteht aus festverzinslichen gedeckten Euro-Schuldverschreibungen, also größtenteils deutschen Pfandbriefen. Die Devisenreserven müssen vor allem sehr sicher und schnell verfügbar sein; daher halten wir hier ganz überwiegend staatliche Schuldverschreibungen und Einlagen bei den betreffenden Zentralbanken.
Und dann haben Sie ja auch noch jede Menge Gold im Keller.
Gold ist nicht nur der größte Teil unserer Währungsreserven, sondern auch der Teil, der die höchste Aufmerksamkeit auf sich zieht. Insgesamt stehen rund 3400 Tonnen in unserer Bilanz, davon waren Ende 2014 etwa 1190 Tonnen hier in Frankfurt gelagert.
Das Interview führten Heike Jahberg und Rolf Obertreis
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