„Einer Hightech-Nation unwürdig“: Experten warnen vor nächstem Debakel beim Impfen
In Deutschland halten Server und Telefonleitungen dem Impf-Ansturm immer wieder nicht Stand. Könnte eine zentrale Impfterminvergabe helfen?
Seit gut sieben Wochen wird in Deutschland bereits gegen das Coronavirus geimpft. Immer noch gibt es jedoch Probleme bei der Vergabe von Impfterminen. Die können mündlich per Telefon oder digital über speziell dafür entwickelte Portale gebucht werden.
Welche Lösung zum Einsatz kommt, unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland. Das gilt auch für die Schwere der Softwareprobleme. Mittlerweile mehren sich die Rufe nach einer bundeseinheitlichen Lösung.
So auch beim Digitalverband Bitkom. „Seit Mitte 2020 ist allgemein bekannt, dass in Deutschland demnächst die bislang größte Impfaktion aller Zeiten ansteht“, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg im Gespräch mit Tagesspiegel Background. „Spätestens da hätte man nicht nur über die Errichtung von Impfzentren sondern parallel über das möglichst effiziente Management des Betriebs und der mehr als 100 Millionen Termine nachdenken müssen. Es wurde aber zu sehr in Beton und zu wenig in Bits und Bytes gedacht."
Die Impfzentren stünden nun, und dies sei auch lobenswert. Das Terminmanagement habe sich jedoch in der Praxis nicht bewährt, binde überflüssig Ressourcen und führe bei vielen Beteiligten zu massiver Frustration. „Letztlich ist es einer Hightech-Nation unwürdig“, sagt Berg.
Die Bundesländer seien erstmals am 24. Oktober durch das Bundesgesundheitsministerium dazu aufgefordert worden, sich auf die Impfungen vorzubereiten. Vielerorts sei mit dieser Herausforderung nicht professionell genug umgegangen worden. „Einen Rückgriff auf externe Informationen und Know-how gab es nur im Ausnahmefall. Auch auf Ausschreibungen wurde verzichtet, obwohl man damit umgehend hätte beginnen können.“
Einheitliche Lösung gefordert
Berg fordert nun eine bundeseinheitliche Lösung für die digitale Impfterminvergabe: „Mit einer bundesweit einheitlichen Lösung spart man Geld und Personal, man ist schneller und besser und man entlastet die betroffenen Menschen. Gerade ältere und damit oft weniger mobile Menschen sollten das nächstgelegene Impfzentrum nutzen können, auch wenn es in einem anderen Bundesland liegt“, so Berg.
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In der Unionsfraktion im Bundestag scheint man einer zentralen Vergabe von Impfterminen zumindest nicht abgeneigt. Fraktionschef Ralph Brinkhaus kritisierte bereits in der vergangenen Woche in einer Bundestagsrede die Vergabepraxis. „Wir brauchen ein besseres Impfterminvergabemanagement. Was in einigen Bundesländern in den letzten Wochen passiert ist – dass 80-Jährige und über 80-Jährige tagelang in Telefonwarteschleifen festgehangen haben, dass sie in Onlineschleifen festgesessen haben –, das ist nicht akzeptabel.“
Internetseiten waren nicht erreichbar
Karin Maag, gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag, verwies gegenüber Tagesspiegel Background darauf, dass die Terminvergabe Ländersache sei, „auch wenn wir von Bundesebene aus auch Vorteile eines bundeseinheitlichen Systems gesehen hätten“.
In den vergangenen Wochen waren immer wieder Berichte über technische Probleme mit den netzbasierten Terminbuchungsportalen publik geworden. Aus Hessen ist bekannt, dass Probleme mit dem webbasierten Portal dazu geführt haben, dass die Hotline zur Buchung der Termine so stark überlastet war, dass manche Bürgerinnen und Bürger hunderte Male anrufen mussten, um einen Termin zu bekommen.
In Nordrhein-Westfalen gab es ebenfalls Beschwerden über eine nicht erreichbare Hotline. In Sachsen berichtete der MDR über anfängliche Erreichbarkeitsprobleme der Internetseite.
Überlastete Server und verbesserungswürdiges Vergabemanagement könnten indes in den kommenden Wochen zu noch größeren Problemen führen. Denn bisher ist die Summe der vergebenen Termine durchaus überschaubar: Bis zum 12. Februar wurden in Deutschland 3,97 Millionen Impfstoffdosen verabreicht – in einem Zeitraum von sieben Wochen seit dem Start der Impfkampagne am 26. Dezember. Doch die Zahl der gelieferten Impfdosen dürfte im zweiten Quartal stark ansteigen.
Laut einem Prognosemodell des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung in Deutschland (ZI) werden bereits in der Kalenderwoche 14 ab dem 5. April mehr als eine Millionen Dosen geliefert. Ab der Kalenderwoche 20, also Mitte Mai, stehen jede Woche mehr als vier Millionen Impfdosen bereit.
In dem Prognosepapier heißt es, dass von Ende Juni an die Kapazitäten der Impfzentren ausgeschöpft seien, dann könnten wöchentlich mehr als acht Millionen Dosen verabreicht werden. Ab diesem Zeitpunkt müssten auch Hausärzte in die Impfkampagne mit einbezogen werden, was bei der digitalen Impfterminvergabe eine zusätzliche Herausforderung bedeuten würde – denn je nach Bundesland müssten maßgeschneiderte Lösungen gefunden werden, um auch Termine in Hausarztpraxen vergeben zu können.
Viele Länder entschlossen sich zu eigenen Buchungsportalen
Welche Voraussetzungen muss ein solches System ganz generell erfüllen? „Beispielsweise muss sich das System an die verschiedenen Impfstoffe anpassen“, sagt Ilias Tsimpoulis, Deutschland-Chef von Doctolib, einem Unternehmen, das bereits heute Terminvergaben an Hausärzte organisiert. „Auch muss es in der Lage sein, die Termine täglich an die Zahl der Dosen anzupassen.“
Eine Möglichkeit, die Impfterminvergabe zu vereinheitlichen, hätte es bereits im Vorfeld gegeben. Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt, Hamburg und zum Teil auch Hessen nutzen das Portal impfterminservice.de der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
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Je komplizierter jedoch ein IT-System wahrgenommen wird, desto mehr Menschen rufen per Telefon an. Die Folge ist, dass die Leitungen besetzt sind.
Andere Länder haben sich dazu entschlossen, eigene Wege zu gehen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. In Bayern hat man sich für ein eigenes Impfportal entschieden, um spezielle Anforderungen an den Vergabeprozess verwirklichen zu können. Jeder in Bayern lebende Mensch kann sich dort vorab registrieren lassen – dabei werden dann Merkmale wie Alter oder Berufsgruppe erfasst.
Anmeldung und Vergabe erfolgen in zwei Schritten
In einem zweiten Schritt erfolgt dann die Terminvergabe, Anmeldung und Vergabeprozess laufen also in zwei unterschiedlichen Schritten. Wer sich einmal registriert hat, wird automatisch per SMS oder E-Mail benachrichtigt, wenn eine Möglichkeit für einen Impftermin besteht.
Eine Priorität hatte dabei der Datenschutz, das Portal arbeite datensparsam, sagte ein Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums zu Tagesspiegel Background. „Das System wurde auch für eine möglichst hohe Zuverlässigkeit konzipiert: Selbst, wenn Server oder die Internetverbindung ausfallen, kann das System aufgrund seiner Offline-Fähigkeit weiter genutzt werden“, so der Sprecher weiter. Bisher sind beim bayerischen System keine größeren Störungen bekannt geworden.
In Hessen wurden Meldedaten abgeglichen
Auch in Hessen sollten landesspezifische Anforderungen verwirklicht werden können – so war beim landeseigenen Terminvergabeportal auf Drängen des Innenministeriums ein automatischer Abgleich mit dem Melderegister vorgesehen, der von einem IT-Dienstleister aus Darmstadt vorgenommen wurde.
Der Abgleich war jedoch offenbar eine große Fehlerquelle: Ein falsches Sonderzeichen – zum Beispiel bei französischen oder türkischen Vornamen – reichte aus, um den Anmeldevorgang zum Abbruch zu führen. Das hessische Innenministerium hat auf eine Anfrage von Tagesspiegel Background nicht geantwortet.
Das Gesundheitsministerium in Rheinland-Pfalz hat ein eigenes Impfportal geschaltet, weil dort die Termine bereits ab dem 4. Januar buchbar sein sollten. In Sachsen betreibt das Deutsche Rote Kreuz (DRK) das Impfportal für das Land. Auf die Frage von Tagesspiegel Background, warum sich Sachsen gegen eine gemeinsame Lösung entschieden hatte, antwortete das sächsische Sozialministerium: „Impfterminvergabe und Logistik sollten integriert werden.“
Sachsen wollte ein Portal, das eine „schnell erweiterbare und anpassbare Plattformarchitektur“ bietet – außerdem sollten dort auch ein Abgleich zwischen Impfstoffbestand und Impfterminverfügbarkeit stattfinden. Planungen begannen nicht vor dem vierten Quartal 2020
Planungen begannen nicht vor dem vierten Quartal 2020
Ähnliche Überlegungen gab es offenbar auch in Niedersachsen, wo im Bundesdurchschnitt bisher die wenigsten Impfungen vorgenommen wurden. „Niedersachsen hat sich für ein einheitliches, zentrales Terminmanagement entschieden, das mit der Impfstofflogistik in den Verteilzentren gekoppelt ist und das neben Onlinebuchungen auch auf ein Bürgertelefon sowie eine telefonische Terminvergabe setzt“, sagte eine Sprecherin des niedersächsischen Gesundheitsministeriums zu Tagesspiegel Background.
Das Portal der Kassenärztlichen Bundesvereinigung stünde für ein „Terminmanagementverfahren einschließlich Reporting“ nicht zur Verfügung. Keines der Bundesländer, die auf die Anfragen von Tagesspiegel Background geantwortet haben, gab an, mit den Planungen für das Impfportal vor dem vierten Quartal 2020 begonnen zu haben, die meisten fingen Ende November oder Anfang Dezember 2020 damit an.
„Die Errichtung der Impfzentren und der Aufbau des Terminmanagementverfahren einschließlich des vorgeschrieben täglichen Reporting-Verfahrens zum RKI standen unter enormen Zeitdruck und mussten innerhalb weniger Wochen an den Start gehen“, heißt es dazu beispielsweise aus dem niedersächsischen Gesundheitsministerium.
Impfhersteller BioNtech will eigenes Programm liefern
Da ab dem zweiten Quartal 2021 mit einem erhöhten Anfrageaufkommen zu rechnen ist, stellt sich auch die Frage, inwiefern die von den Bundesländern angewandte Technologie skalierbar ist. Sachsen macht dazu sehr konkrete Angaben: „Vertraglich mit T-Systems sind bis zu 1.800 parallele User-Sessions vereinbart, die tatsächliche Leistungsfähigkeit liegt höher“, so eine Sprecherin des Sozialministeriums.
Aus Bayern hieß es: „Die zu erwartende Nutzeranzahl wurde im Vorfeld abgeschätzt und die Serverkapazitäten entsprechend ausgelegt.“ Zudem sei vor dem Produktivbetrieb über Last- und Performancetests das Systemverhalten ermittelt worden. „Eine Erweiterung der Serverkapazität ist bedarfsmäßig jederzeit möglich.“
Der Impfstoffhersteller Biontech will indes an einer anderen Stelle mit einer bundesweiten Lösung aushelfen: Weil es keine einheitliche Software für die Impfstofflogistik gibt, so ein Bericht des „Spiegel“, will das Unternehmen nun das entsprechende Programm liefern. Es sei auch bereits weitgehend fertig.