Türkei: Erdogan wird zum Gemüsehändler
Die Wirtschaftskrise in der Türkei verschärft sich, weil Geld teuer und knapp ist. Im März stehen Kommunalwahlen an.
Suphi trägt schwer an seinem Einkauf. Mehrere Kilogramm Kartoffeln, Tomaten und Zwiebeln hat der Familienvater bei einem der mobilen Verkaufsstände abgeholt, die seit einigen Tagen in Istanbul und Ankara aufgebaut sind. Die Regierung lässt dort Obst und Gemüse zu Preisen verkaufen, die weit unter denen im Supermarkt liegen. Präsident Recep Tayyip Erdogan will damit den „Terror“ der gestiegenen Lebensmittelpreise beenden und vor den Kommunalwahlen im März punkten. Doch wenn der Staat zum Gemüsekrämer wird, dann müssen die Dinge schon schlimm stehen.
Auch Suphi ist unzufrieden. Er hat zwar Geld gespart am Gemüsewagen am Istanbuler Taksim-Platz, an dem Mitarbeiter der Stadtverwaltung die Kunden bedienen. „Aber dass man Schlange stehen muss, um Gemüse zu kaufen, ist nicht schön“, sagt er. Teilweise müssen die Kunden an den staatlichen Verkaufsständen mehrere Stunden warten. Nach Jahren des Wirtschaftsaufschwungs hatten die Türken eigentlich gedacht, solche Zeiten wären vorüber.
Die Obst- und Gemüsepreise sind unter anderem deshalb gestiegen, weil der Kursverfall der Lira in den vergangenen Monaten das Saatgut, Schädlingsbekämpfungsmittel und den Warentransport von den Feldern zum Verbraucher verteuert hat. Auch Unwetter in den Anbaugebieten trugen zum Preisanstieg bei: Im Januar waren Nahrungsmittel in der Türkei mehr als 30 Prozent teurer als im Vorjahr. Insgesamt liegt die Inflation bei 20 Prozent. Erdogan gibt Zwischenhändlern die Schuld: „Wir werden jenen eine Lehre erteilen, die den Nahrungsmittelterror verbreiten“, sagt der Präsident.
Regierungskritiker sprechen dagegen von einer grundlegenden Krise in der türkischen Landwirtschaft, die in den vergangenen Jahren durch unüberlegte Privatisierungen geschwächt worden sei. Um den Preisanstieg vieler landwirtschaftlicher Produkte zu stoppen, will die Regierung auch mehr Zwiebeln, Getreide und Fleisch importieren – das schadet wiederum heimischen Anbietern.
Erdogan gegen Zinserhöhung gegen Inflation
Lange Jahre war die Wirtschaftspolitik das Aushängeschild der Erdogan-Regierung: märchenhafte Wachstumsraten, ein Bauboom, riesige Infrastrukturprojekte wie Brücken und Flughäfen sowie ein neues Wohlstandsniveau für Millionen, die sich plötzlich eine eigene Wohnung und ein Auto leisten konnten. Doch Ankara finanzierte den Aufschwung in den Jahren der weltweit niedrigen Zinsen mit billigen Krediten, und regierungsnahe Konzerne sackten milliardenschwere Staatsaufträge ein. Steigende Zinsen, versuchte Eingriffe der Regierung in die Arbeit der Zentralbank und innenpolitische Konflikte haben zur Folge, dass sich viele Investoren von der Türkei abwenden. Spannungen mit den USA beschleunigten den Sturz der Lira.
Weil Erdogan öffentlich gegen eine Zinserhöhung zur Inflationsbekämpfung wetterte, zögerten die Währungshüter unter dem Druck des Präsidenten bis September mit der Erhöhung der Leitzinsen auf 24 Prozent. Inzwischen hat sich der Kurs der Lira wieder etwas erholt. Doch jede von den Märkten als voreilig bewertete Zinssenkung könnte die Währung erneut in Schwierigkeiten bringen. Laut einer Umfrage der Agentur Bloomberg bei Wirtschaftsexperten werden die türkischen Leitzinsen bis zum Jahresende auf einem Niveau von etwa 20 Prozent bleiben. Für etliche Betriebe bedeutet das zusätzliche Schwierigkeiten. Selbst solvente Firmen investieren nicht mehr, weil sie sich Kredite nicht leisten können. Arbeitslosigkeit und private Verschuldung steigen, die hohen Kreditzinsen und staatliche Sparmaßnahmen setzen der Bauindustrie zu. Das Vertrauen der Verbraucher hat gelitten, viele vermeiden größere Anschaffungen. Der Verkauf von Neuwagen ist binnen einen Jahres um fast 60 Prozent eingebrochen.
Für Erdogan kommt das zu einem schlechten Zeitpunkt. Seine Regierungspartei AKP muss bei der Kommunalwahl in der Hauptstadt Ankara um die Mehrheit fürchten; in Istanbul hat die AKP ebenfalls Probleme. In einer neuen Umfrage sagten 70 Prozent der Wähler, sie seien mit der Wirtschaftspolitik der Regierung unzufrieden.
Türkische Unternehmen sitzen auf Devisenschulden von mehr als 200 Milliarden Dollar. Einige Prestigeprojekte der Regierung werden zum Milliardengrab. Verzögerungen bei der Inbetriebnahme des neuen Istanbuler Flughafens zum Beispiel bedeuten, dass der Staat den Betreiberfirmen viel Geld bezahlen muss: Statt von den vertraglich vorgesehenen sechs bis sieben Millionen Passagieren sei der neue Flughafen im Januar nur von 90 000 Reisenden genutzt worden. Finanzpolitisch steckt Ankara in einer Zwickmühle. Angesichts des Wertverfalls der Lira hat Finanzminister und Erdogan-Schwiegersohn Berat Albayrak die Regierung auf strikte Ausgabendisziplin festgelegt. Deshalb fehlt das Geld für großzügige Ausgabenprogramme.
Doch Maßnahmen wie vorgezogene Zentralbank-Überweisungen oder der staatliche Gemüseverkauf hätten nicht den erwünschten Effekt, sagte der Wirtschaftsfachmann Emre Deliveli: „Die Regierung wird zum Internationalen Währungsfonds gehen müssen.“ Erdogan hat ein Hilfeersuchen an den IWF zwar ausgeschlossen. Doch ein IWF-Programm stelle nicht nur frisches Geld zur Verfügung, sondern stärke auch das Vertrauen der Märkte – was dann die Kreditwürdigkeit verbessere, argumentiert Deliveli.
Ob die staatlichen Gemüsestände für Erdogan einen Schub im Wahlkampf bringen können, ist ebenfalls nicht sicher. Mehmet, der in der Nähe des Taksim-Platzes einen Gemüseladen betreibt, sagt klipp und klar: „Die AKP wähle ich nicht mehr“ – obwohl er seit zehn Jahren Mitglied der Erdogan-Partei ist. Mehmet muss seine Tomaten auf dem Großmarkt für 75 Euro-Cent das Kilo einkaufen, doch der staatliche Gemüsehandel bietet sie für 60 Cent den Verbrauchern an.
Susanne Güsten