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Auf dem Gipfel der Karriere nimmt manch einer den Laptop überall hin mit, um dienstliche Mails zu lesen. Urlaub geht anders.
© picture alliance / ANP

Stress am Arbeitsplatz: Einfach mal abschalten

Stress macht krank. Wirtschaft und Politik tun etwas dagegen – aber viel zu wenig, meinen Kritiker. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile der häufigste Grund für Frühverrentungen.

Ursula von der Leyen meint es ernst. Für Stellungnahmen sei sie im Urlaub grundsätzlich nicht zu erreichen, auch nicht am Handy, hieß es am Wochenende aus der Pressestelle. Das ist konsequent von der Ministerin, die sich im Sommer gegen die ständige Erreichbarkeit ausgesprochen und von Unternehmen eine klarere Abgrenzung zwischen Beruf und Freizeit gefordert hatte. Denn viele Arbeitnehmer rufen noch schnell nachts ihre Emails ab, nehmen das Handy im Urlaub mit zum Strand, um für den Chef erreichbar zu sein. Das sorgt für Stress, der auch krank machen kann.

Und das passiert nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung immer öfter. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile der häufigste Grund für Frühverrentungen, zuletzt gingen 41 Prozent der Fälle darauf zurück. Wegen Krankheiten wie Depression, Angstzuständen oder Burnout gingen mehr als 73 200 Menschen frühzeitig in Rente, im Jahr 2000 waren es nur gut 51 400. Der Anteil der Frauen liegt deutlich höher als der der Männer.

„Es ist unstrittig, dass die Belastungsfaktoren in der heutigen Arbeitswelt zunehmen“, sagt der Arbeitspsychologe Karlheinz Sonntag. Allerdings warnt er vor Pauschalurteilen. „Sicher kann die Arbeit psychische Erkrankungen verstärken, doch sind diese Zusammenhänge noch wenig untersucht“, erklärt er. Es gebe noch viele andere Faktoren, die ursächlich sein könnten, etwa der eigene Lebenswandel, Vorerkrankungen oder auch private Schwierigkeiten. Auch die Rentenversicherung verweist darauf, dass die Zunahme zum Teil damit zusammenhänge, dass solche Krankheiten heute besser erkannt und auch weniger tabuisiert würden.

Dennoch rät der Psychologe Sonntag Unternehmen, ihre Arbeitsabläufe auf psychische Belastungsfaktoren hin zu untersuchen. Dabei gehe es nicht nur um subjektive Fragen wie das Stressempfinden der einzelnen Mitarbeiter, sondern auch um objektive Kriterien. „Man sollte bei den Strukturen und Inhalten genau hinschauen. Wie ist das Führungskräfte- Mitarbeiter-Verhältnis, der Entscheidungsspielraum des Einzelnen im Job, wie steht es um die Erreichbarkeit, wie komplex sind die Aufgaben?“ An seinem Lehrstuhl für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Heidelberg hat Sonntag solche Analysen schon gemacht, zum Beispiel mit Konzernen wie der Deutschen Bahn.

Die Bahn hat mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft einen Demografie-Vertrag geschlossen.

Bei dem Staatskonzern arbeiten gut die Hälfte der 200 000 Angestellten in Deutschland im Schichtdienst. Christian Gravert, der als Arzt bei der Bahn das Gesundheitsmanagement leitet, sagt, viele würden „durch die Arbeit am Gleis körperlich und psychisch beansprucht“. Im vergangenen Frühjahr hat der Konzern deshalb ein spezielles „Mitarbeiter-Unterstützungsteam“ aufgebaut. Es besteht aus geschulten Beratern und Psychologen, die persönlich, telefonisch oder per Mail bei beruflichen, familiären, gesundheitlichen und sozialen Problemen kontaktiert werden können. Und das nicht nur von den Angestellten der Bahn sondern auch von deren Angehörigen. „Auf Wunsch können sie dabei völlig anonym bleiben“, sagt Gravert. Können Berater nicht weiterhelfen, vermitteln sie einen anderen Ansprechpartner, zum Beispiel einen Therapeuten oder Mediator. Vorbild für dieses neue Konzept war die Betreuung der Lokführer, die nach Unfällen traumatisiert sind. Ihnen stellt die Bahn noch am Unfallort Erstbetreuer zur Seite, die sie auf Wunsch nach Hause begleiten. Und auch danach werden sie weiterhin psychologisch betreut, auch von Mitarbeitern, die ähnliches erlebt haben und sich in „psychischer erster Hilfe“ haben schulen lassen.

In Zukunft will der Bahn-Konzern den Mitarbeitern nach eigenen Angaben zudem „mehr individuelle Freiräume“ einräumen. So soll die persönliche Situation zum Beispiel bei der Erstellung der Schichtpläne berücksichtigt werden. Führungskräfte, Betriebsräte und Mitarbeiter sollen sich dafür zusammen an einen Tisch setzen. So steht es zumindest im Demografie-Vertrag, den die Deutsche Bahn im Dezember mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) geschlossen hat und der am 1. April in Kraft tritt.

Maschinen sollen den Mitarbeitern schwere körperliche Tätigkeiten erleichtern.

Der Handelskonzern Rewe versucht, dem Problem in erster Linie mit Gesprächskreisen und Schulungen zu begegnen. In Kommunikationsseminaren werden Führungskräfte sensibilisiert, um Schwierigkeiten und Belastungen im Team besser zu erkennen. „Ein Mitarbeiter, der eine schwierige Zeit durchlebt, etwa wegen eines Todesfalls, sollte nicht vom Filialleiter an die Kasse gesetzt werden“, nennt Rewe-Sprecher Andreas Krämer als Beispiel. Zudem hat das Unternehmen Vertrauenspersonen in der Belegschaft geschult, die zusätzlich zu den Betriebsräten als erste Ansprechpartner zur Verfügung stehen sollen. Auch seine Arbeitsabläufe will das Unternehmen überdenken. So soll im neuen Logistikzentrum in der Nähe von Frankfurt am Main künftig mehr automatisch laufen. „Die Maschinen sollen den Mitarbeitern schwere körperliche Tätigkeiten wie das Packen von Getränkepaletten erleichtern“, sagt Krämer. Das Unternehmen hat auch ein ökonomisches Interesse an einer gesunden Belegschaft, denn ein hoher Krankenstand ist teuer. „Zudem steigt die Belastung für die verbliebenen Kollegen, die die Ausfälle kompensieren müssen“, sagt Krämer.

Eine Gesetzesänderung, die das Bundeskabinett kurz vor Weihnachten beschlossen hatte, soll nun zumindest das Bewusstsein für psychische Erkrankungen schärfen. Künftig soll im Arbeitsschutzgesetz stehen: „Die Arbeit ist so zu gestalten, dass eine Gefährdung für das Leben sowie die physische und die psychische Gesundheit möglichst vermieden und die verbleibende Gefährdung möglichst gering gehalten wird.“ Zudem wird die Liste der möglichen Gefährdungen um „psychische Belastungen am Arbeitsplatz“ ergänzt. Das heißt, dass die Betriebe die Mitarbeiter nicht nur vor Lärm schützten sollen, sondern auch vor eventuell belastenden Arbeitsabläufen.

Dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) ist das zu wenig und vor allem zu wenig konkret. Der Verband fordert eine Anti-Stress-Verordnung, die Arbeitgeber unter anderem zwingt, die vereinbarten Arbeitszeiten nicht zu überschreiten, und ansonsten zügig einen Ausgleich zu garantieren. Die Fehlzeiten in den Betrieben wegen psychischer Leiden sind laut dem DGB seit 1994 um 80 Prozent gestiegen. „Das Hauptproblem ist, dass psychische Belastungen in den meisten Betrieben noch immer ignoriert und die Beschäftigten wie Zitronen ausgequetscht werden“, sagt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach.

Auch der Arbeitspsychologe Sonntag findet, dass in den Unternehmen noch zu wenig getan wird. „Im Hinblick auf die demographische Entwicklung und das steigende Renteneintrittsalter, müssen die Unternehmen die Gesundheit ihrere Mitarbeiter stärker im Blick haben.“ Zugleich verweist er aber auf die Eigenverantwortung der Arbeitnehmer. „Die Mitarbeiter müssen auch selbst dafür sorgen, sich gesund zu halten und mit ihren Ressourcen zu haushalten.“

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