Der nervöse Mensch: Einfach mal abschalten
E-Mail, Handy, Newsletter: Viele ertrinken in der Datenflut. Das ist ein volkswirtschaftliches Desaster. Wie man dem Kommunikationsterror entkommt.
Mal ehrlich, wenn Sie das vergangene Jahr Revue passieren lassen: Wie viel von dem, was Sie sich vorgenommen hatten, haben Sie geschafft? Wie viele von den Büchern, die Sie vorletztes Jahr zu Weihnachten bekamen, haben Sie gelesen? Und wie viele Stunden haben Sie stattdessen im Internet gesurft, wie viele E-Mails haben Sie geschrieben, und wie oft hat Sie das Telefon unterbrochen?
Wie viele Leute sich inzwischen überfordert fühlen im Strom der permanenten Pieps und Klicks, ahnt man angesichts des Erfolgs von Buchtiteln wie „Das Glück der Unerreichbarkeit“ von der Kommunikationsprofessorin Miriam Meckel oder „Payback“ von Frank Schirrmacher, das seit Wochen in den Bestsellerlisten steht. „Multitasking ist Körperverletzung“, schreibt der FAZ-Herausgeber. In den USA beschäftigen sich die Forscher schon lange mit dem Phänomen der Informationsüberflutung. Denn wenn sich immer mehr Menschen immer schlechter konzentrieren können, ist das nicht nur ein Befindlichkeitsproblem, sondern ein volkswirtschaftliches Desaster.
Die Informatikerin Gloria Mark fand bei einer Untersuchung heraus, dass kalifornische Büroarbeiter alle elf Minuten unterbrochen werden. Sie brauchen jedes Mal 25 Minuten, um zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückzukehren. Ein durchschnittlicher Mitarbeiter bei der Computerfirma Intel, so eine Umfrage, erhält 50 bis 100 E-Mails am Tag. Die Intel-Angestellten verwenden 20 Stunden in der Woche darauf, Mails zu lesen und zu schreiben. 30 Prozent sind für ihre Arbeit unwichtig. Eine Studie des Henley Management College in Großbritannien belegt, dass Manager dreieinhalb Jahre ihrer Lebenszeit mit irrelevanten E-Mails verschwenden.
Die Unternehmensberatung Basex hat hochgerechnet, dass der US-Wirtschaft jährlich 900 Milliarden Dollar verloren gehen, weil Outlook oder Facebook den Leuten Zeit stehlen, in der sie Aufgaben erledigen oder Ideen haben sollen. Nicht berücksichtigt sind Kosten, die entstehen, wenn Mitarbeiter durch einen Burn-out arbeitsunfähig werden, weil sie auch unterwegs und zuhause ständig online sind. Und es ist nicht nur Zeit, die wir verlieren, weil wir andauernd kleine Infohäppchen verarbeiten, sondern auch die Fähigkeit zum konzentrierten Arbeiten. Das amerikanische Bildungsministerium warnte 2005, dass die Zahl der College-Absolventen, die komplexere Texte interpretieren können, dramatisch sinkt.
Natürlich steht dem gegenüber auch ein riesiger Produktivitätsgewinn durch den schnellen Austausch von Informationen an jedem Ort der Welt. Wie aber sollen Menschen, die sich nur elf Minuten am Stück konzentrieren können, langfristige Strategien entwerfen, geschweige denn die Finanzkrise in den Griff kriegen? Innenminister Thomas de Maizière hat, als er noch Angela Merkels Kanzleramtschef war, gern erzählt, dass er täglich 50 SMS von der Kanzlerin bekam. Wenn Politiker kaum noch Zeit zum Lesen haben, ist es ein Wunder, wenn unbefriedigendes Klein-Klein dabei herauskommt, anstatt nachhaltiger Antworten? Miriam Meckel schreibt: „Wir brauchen im Umgang mit den Informationslasten, die wir zu bewältigen haben, Reflexions- und Vertiefungspausen, sonst folgt auf die Datenflut unweigerlich die Denkebbe.“ Wie aber verschafft sich der nervöse Mensch diese Pausen?
Der naheliegende Tipp lautet: Öfter mal Abschalten. Das erfordert vor allem Selbstdisziplin. Es ist ja nicht nur die Außenwelt, die anklopft, sondern auch die Neugierde, die den Menschen kommunizieren lässt. Achim Mollbach, Managementcoach bei der Unternehmensberatung Kienbaum, sagt: „Wir haben noch keine Kultur entwickelt, wie wir mit diesen Dingen umgehen. Alle Leute schimpfen über Stress. Aber sie lassen sich ständig stören.“
Ein Beispiel: „Wenn alle wissen, der ist ständig online, erziehen Sie die Leute auch dazu, Ihnen immer Mails zu schicken.“ Eine Deadline am Freitag wird unwirksam, wenn alle wissen, dass der Empfänger das Dokument auch am Wochenende liest.
Bei Intel hat das Management seinen Mitarbeitern testweise einen E-Mail-freien Tag pro Woche verordnet und die Regel aufgestellt, Mails erst nach 24 Stunden zu beantworten. Die Mehrheit der Angestellten lasen auch weiterhin jede E-Mail sofort. Viele nutzten den freien Tag, um Mails vorzuschreiben, die sie später abschickten.
Gemeinsam mit Firmen wie IBM und Google hat Intel die „Information Overload Research Group“ gegründet. Auf ihrer Webseite empfehlen die Computerexperten, den von ihnen erfundenen Piepton abzustellen, und nicht jede Nachricht sofort zu lesen. Stattdessen sollte man sich feste Zeiten setzen, in denen man seine Mails bearbeitet. Bei kurzen Informationen könne man die Nachricht auch nur in die Betreffzeile schreiben und mit „EOM“ beenden, der Abkürzung für „End of Message“. Dann braucht der Empfänger die Mail nicht öffnen. Achim Mollbach kritisiert vor allem Mails, die in Kopie an 1000 Leute gehen, für die der Inhalt nur am Rande interessant ist. Manche Unternehmen hätten darum die CC-Taste gesperrt. In Unternehmen, die eine starke Absicherungskultur haben, wird öfter auf CC geklickt. Je zentralistischer eine Organisation, desto mehr Mails bekommen die Führungskräfte.
Auf Mails, in denen weder wertvolle Informationen noch konkrete Fragen stehen, sollte man antworten: „Was willst Du von mir?“ Über seine Klienten, die klagen, dass sie nur noch am Wochenende nachdenken, sagt der Berater: „Sie schleppen alle noch Anforderungen aus der vormedialen Zeit mit sich herum.“ Früher konnte man über alles informiert sein. Heute führt dieser Anspruch zum Overload. „Der Perfektionismus ist in dieser Welt utopisch geworden.“ Ein schöner Vorsatz für das neue Jahr wäre demnach: Mut zur Lücke.
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