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Große Kulisse. Das VW-Werk dominiert das Wolfsburger Stadtbild und überragt das Wissenschaftsmuseum Phaeno.
© A. Schmidt/Reuters

Wolfsburg und der VW-Skandal: Eine Stadt in Angst

Ohne Volkswagen gäbe es Wolfsburg nicht. Jeder zweite Einwohner arbeitet beim Autokonzern am Mittellandkanal. Krisen gehören hier zum Lebensgefühl – doch beim Abgas-Skandal ist alles anders.

Von Torsten Hampel

Ein Stadtpolitiker stellt auf einmal Forderungen an einen Großinvestor. Ein Naturschutzverein setzt seinem Wohltäter ein Ultimatum. Ein Fußballfan fragt einen Fußballprofi nach einem Trikot, aber bitte keines vom hiesigen Verein, eines vom schlimmsten Gegner bitte.

Während drüben, in den Chefetagen der Weltfirma, noch über Sprachregelungen und Personalentscheidungen gestritten wird, darüber, wie man nach dem Skandal um manipulierte Abgas-Messungen den Willen zur Zeitenwende sonst noch glaubhaft machen kann, findet sie hier schon statt. Hier, in der Stadt am anderen Ufer des Mittellandkanals. Die Weltfirma heißt Volkswagen, die Stadt heißt Wolfsburg.

Es ist Freitagmittag, Svante Evenburg sitzt in einem Burger-Restaurant an der Porschestraße. Die Porschestraße ist Wolfsburgs Einkaufsbummelmeile und Evenburg der Chef der Piratenfraktion im Stadtparlament. Er sagt: „Ich sag’ immer, im Endeffekt ist das hier eine Goldgräberstadt, das da drüben ist die Mine. Wenn die irgendwann erschöpft ist, wird das hier ’ne Geisterstadt.“

Da seien die guten Löhne, die VW den 60000 Menschen zahlt, die der Konzern hier beschäftigt. Und dann gibt es noch die Gewerbesteuer, die Wolfsburg einnimmt. Im vergangenen Jahr waren es 275 Millionen Euro, im Jahr 2012 sogar mehr als 400 Millionen. Das waren damals fast 70 Prozent aller städtischen Einnahmen, den größten Teil davon zahlte VW. Rekordwerte sind das, kaum ein deutscher Stadtkämmerer nimmt pro Einwohner so viel Gewerbesteuern ein wie der von Wolfsburg. Und kaum einer gibt auch so viel aus.

Wenn VW hustet, hat Wolfsburg eine Grippe

„Das ist schön“, sagt Evenburg, „aber es ist auch gefährlich.“ Weil er ein Faible für Sprachbilder hat, gebraucht er noch eins: „Wenn Volkswagen hustet, dann hat Wolfsburg die Grippe.“ Was aber, wenn Volkswagen die Grippe hat? Wie jetzt gerade, nachdem die Firma die Folgen ihres Diesel-Betrugs noch nicht einmal selbst abschätzen kann?

Evenburgs stellvertretende Fraktionschefin kommt an den Tisch und setzt sich zu ihm. Es ist seine Mutter Piroska, und damit ist die Fraktion vollzählig. Am Montag wird eine Sondersitzung zur künftigen Haushaltslage der Stadt stattfinden, die beiden beraten, was sie dort vorschlagen werden. Der geplante Neubau eines „Bildungshauses“, in dem unter anderem die Volkshochschule und die Stadtbibliothek untergebracht werden sollen, „das kann weg“, sagt Svante Evenburg. Auch weg kann die Sanierung einer Straße. Nicht weg kann die neue Feuerwache. 75 Millionen Euro sind dafür vorgesehen.

Rasend schnell geht die Piratenbesprechung, nach nicht einmal 30 Sekunden ist das Thema ausdiskutiert. Zum einen, weil die beiden gleich weiter müssen, zum anderen aber ist Geistesgegenwart das Gebot der Stunde in Wolfsburg.

Der Nachmittag am Tag zuvor, Wolfsburger Rathaus, Sitzungssaal 1, der Bauausschuss tagte. Einer der Tagesordnungspunkte war ein großes Wohnungsneubauprojekt von Volkswagen Immobilien, einer Tochterfirma des Autokonzerns. 1250 Wohnungen sollen entstehen, und ginge es nach VW, soll keine davon weniger als zehn Euro Kaltmiete pro Monat und Quadratmeter kosten. Dem SPD- Fraktionschef passte das nicht. Er will neben dem teuren auch billigeren, sozialen Wohnungsbau. Entweder VW setze dies um, oder seine SPD und damit die größte Ratsfraktion werde den Plänen nicht zustimmen. „Muss man sich mal vorstellen“, sagt Evenburg. „Der Fraktionschef der größten Partei hier, der vielleicht am besten mit VW verdrahteten Partei, macht der Firma so eine Ansage. Und der arbeitet auch noch selber bei VW.“ Die Grünen übrigens waren angesichts der SPD-Forderung etwas skeptisch. Aber bei den Grünen hier gibt es auch welche, die mit dem Porsche zum Rathaus kommen. „Ist eben alles ein bisschen anders hier“, sagt Evenburg.

Mercedes-Busse fahren ohne Stern

Wolfsburg ist die Stadt, in der die Mercedes-Busse der Verkehrsbetriebe ohne Mercedes-Stern herumfahren. Evenburgs Mutter meint zu wissen, dass dies auf Anweisung von VW geschah. Ihr Sohn wiederum, der manchmal Besucher durch das Rathaus führt, berichtet von dessen Bauzeit. Als man drüben bei VW gemerkt habe, wie hoch das Rathaus werden sollte, habe man dort auf das eigene Verwaltungshochhaus noch ein paar Etagen mehr als geplant draufgesetzt. Damit die Verhältnisse wieder stimmen, was auch völlig in Ordnung sei. Wolfsburg lebt nicht nur von VW. Es wäre ohne die Firma überhaupt nicht da. Evenburgs Mutter schwärmt jetzt von den fantastischen Auto-Leasing-Angeboten, die VW seinen Mitarbeitern macht.

Der Skandal macht Naturschützer nachdenklich

Kein Spiel. Eine Reihe von Spielzeugautos auf einem Parkplatz vor der VW-Fabrik in Wolfsburg.
Kein Spiel. Eine Reihe von Spielzeugautos auf einem Parkplatz vor der VW-Fabrik in Wolfsburg.
© IMAGO

Daniel Gärtner dagegen kann mit Autos vergleichsweise wenig anfangen. Er arbeitet zwar im VW-Werk, in Halle 8, er verpackt dort als Ungelernter Autoteile in Kisten, die dann wiederum ans Montageband gebracht werden. Für angeblich 23 Euro die Stunde plus 5900 Euro Einmalbonus in diesem Jahr. Doch Gärtner fährt selbst kein Auto, er besitzt keines, einen Führerschein hat er auch nicht.

Gärtner steht am Donnerstagnachmittag am Rand eines der Rasenplätze hinterm VfL-Stadion. Der VfL Wolfsburg, ebenfalls eine Volkswagen-Tochterfirma, lässt seine Bundesligaspieler zum Training antreten, und Gärtner schaut zu. Seit zwölf Jahren arbeitet er in Wolfsburg, er ist noch nie hier gewesen und im Stadion auch nicht. Doch an diesem Tag hat er eine Mission. Er will an Dante ran, den Abwehrspieler. Er möchte, dass der ihm ein Trikot besorgt, für einen behinderten Jungen, um den Gärtners Mutter sich kümmert.

Das Vorhaben verlangt etwas Mut von ihm, so viel Mut vielleicht, wie ihn der SPD-Fraktionschef zur gleichen Zeit im Bauausschuss aufbringen muss. Es ist der Mut der neuen Zeit, in der ein Super-Konzern, der Jahre lang vieles richtig gemacht hat und dabei immer größer und mächtiger geworden ist, sich plötzlich fehlbar zeigt. Er hat jetzt haufenweise offene Flanken.

Dante soll ein Trikot von Manuel Neuer besorgen

Das Training ist vorbei, Gärtner stellt sich an den Weg zu den Kabinen, Dante kommt. „Dante, kannst du mir ein Trikot von Manuel Neuer besorgen?“ Von Manuel Neuer! Es ist in diesem Moment keine 48 Stunden her, dass dieser Dante gegen Neuers Klub Bayern München eine furchtbare Niederlage erlitten hat, ein 5:1. In der Stadt, die die Mercedes-Sterne von ihren Bussen abmontiert, kann so eine Bitte, noch dazu grußlos vorgetragen und wie aus dem Hinterhalt, nur als Blasphemie gelten. Doch Dante zuckt nicht mal. „Ich verspreche nicht“, sagt er, „aber ich versuche.“ – „Nächstes Training komm’ ich dann“, sagt Gärtner. Er sagt nicht einmal Danke.

Ein paar Stunden später und einige hundert Meter entfernt passiert dann schon wieder so etwas. In Wolfsburg tagt gerade eine „Wolfskonferenz“, der Naturschutzbund Deutschland hat zu einem Abendempfang eingeladen. Fachleute aus der halben Welt sind gekommen, „um sich“ – so steht es im Programm – „über ihre Erfahrungen mit Wölfen auszutauschen.“ Mitveranstalter ist der Volkswagen-Konzern, der mit dem Nabu seit 15 Jahren in einer „Dialog- und Projektpartnerschaft“ verbunden ist. Wie viel Geld seitdem von der Autofirma an die Naturschützer geflossen ist, wie viel sie zur Wolfskonferenz zugeschossen hat, das will an diesem Abend keiner der Anwesenden sagen, es sei „schwer zu beziffern“, sagt einer.

Die Leute stehen herum, halten Gläser mit Rotwein in den Händen und warten auf die Ansprachen. Wolfsburgs Oberbürgermeister Klaus Mohrs tritt vor, der erste Satz, den er sagt, lautet: „Ich sage gleich mal zu Beginn, Wolfsburg hat schon bessere Zeiten erlebt.“ Er wird abgelöst vom Nabu-Gastgeber. „Sprechen wir’s nochmal an?“, sagt der. Er spricht es nochmal an, er sagt, „dass wir mit unserem Umweltpartner Volkswagen hier ein Problem haben“. Die weitere Zusammenarbeit stehe „auf dem Prüfstand“.

Die Glaubwürdigkeit der Naturschützer steht auf dem Spiel, da redet man vergleichsweise deutlich und tapfer. Am Vormittag bereits hatten sie einen für die Umwelt zuständigen Vorstandsposten beim Konzern gefordert. Auch im Aufsichtsrat müsse eine entsprechende Stelle geschaffen werden.

"Es wirft einen nicht sofort um", sagt der Oberbürgermeister

Klaus Mohrs sagt hinterher, dass die Wolfsburger Krisen gewohnt seien. Manche davon waren so groß und unignorierbar, dass man ihnen Namen gegeben hat. In den 90er Jahren gab es die „Lopez-Affäre“ um einen VW-Vorstand, der von Opel kam und von dort geheime Unterlagen mitgenommen haben soll. Im Jahrzehnt darauf kam der „Betriebsrats- Lust reisen-Skandal“ ans Licht, mit dem sich der Konzern seine Gewerkschafter willfährig machen wollte. Nun kommt also die „Abgas-Affäre“ dazu.

„Es wirft einen nicht sofort um“, sagt Mohrs, „Krisen gehören hier zum Lebensgefühl. Aber im Moment gehört auch Betroffenheit und Angst dazu, weil fast jeder hier von dem, was im Werk passiert, persönlich betroffen ist.“ Daniel Gärtner, der Trikotjäger vom Trainingsplatz, hatte am Nachmittag „wir könnten kotzen“ gesagt.

Es ist Nacht geworden in Wolfsburg. 22 Uhr, Schichtwechsel, Kamerateams der Fernsehsender postieren sich am Werkstor 17. Sie suchen die Angst und die Betroffenheit, sie filmen abweisende Arbeitergesichter – als sich einige hundert Meter Luftlinie von hier die Hoffnung in zwei Sesseln niederlässt. In der Bar des Ritz-Carlton-Hotels hat ein Schweizer Ehepaar Platz genommen. Er fährt einen VW, sie hat auch einen. Seiner ist einer „mit dem Verbrecher-Diesel“ sagt er, ihrer ist ein Beetle. Weil sie gern in die Berge fahren, hätten sie gern noch ein Auto, einen Allrad-Golf. Am nächsten Morgen werden sie ihn in Wolfsburg entgegennehmen.

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