Mobilität: Eine App für viele Reisen
Lokale Anbieter arbeiten an einer Mobilitäts-App, die viele Funktionen vereint. Schaffen sie die Umsetzung nicht, will die EU Drittanbieter wie Google zulassen.
Eine App für Alles. Das wünschen sich viele Reisende. Doch wer in Hamburg mit dem Bus zum Bahnhof fährt, dort in den ICE nach München steigt, und dann mit U-Bahn und Carsharing ans Ziel fährt, muss gleich vier Anwendungen herunterladen. Eine Mobilitäts-App, über die sich Routenplanung-, -reservierung und -bezahlung bundesweit organisieren lassen, gibt es nicht. Nervig und umständlich, finden viele.
Doch es kommt Bewegung in den Markt. Mit Jelbi haben die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) kürzlich eine Smartphone-App vorgestellt, die verschiedene Dienste vereinen soll. Deutschlandweit arbeiten Verkehrsunternehmen an ähnlichen Lösungen – aus Angst vor Technologieunternehmen. Auch die EU macht Druck.
Wer die Jelbi-App öffnet, dem werden ab Sommer verschiedene Reiseoptionen inklusive voraussichtlicher Dauer und Preis angezeigt, so das Versprechen der BVG. Zunächst sollen die regulären Tarife der Anbieter gelten.
Für das Vorhaben konnte die BVG eine ganze Reihe von Partnern gewinnen, darunter das E-Scooter-Sharing Emmy, das Berliner Fahrdienst-Start-up Clevershuttle und den niederländischen Leihradanbieter DonkeyRepublic, Jump Bike und Lime Bike aus den USA sowie Taxi Berlin. Sobald sie auf deutschen Straßen genehmigt sind, sollen auch elektrische Tretroller aufgenommen werden. Insgesamt hätten sich mehr als 25 Interessenten gemeldet, teilte die BVG mit.
Lange galten solche Bündnisse als unmöglich. Zu groß war die Sorge der einzelnen Unternehmen, ihre Kunden und deren Daten an die Konkurrenz zu verlieren. Doch das ändert sich. Die Partnerunternehmen erhoffen sich, durch die Integration in einen „Mobilitäts-Marktplatz“ neue Kunden zu gewinnen. „Durch die Partnerschaft mit der BVG erhöhen wir die Sichtbarkeit für unseren Ride-Pooling-Service“, heißt es beispielsweise bei Clevershuttle. „So können wir direkt Menschen ansprechen, die gerne multimodal unterwegs und offen für neue Mobilitätsformen sind.“
Auffällig ist, dass nur kleinere Anbieter Teil des neuen Angebots sind. Die großen Konzerne Daimler (Car-2-Go) und BMW (Drive-Now), die seit vergangenem Freitag unter einem Dach fungieren, machen nicht mit. Auch das E-Roller-Sharing Coup, hinter dem der Technologiekonzern Bosch steht, fehlt, ebenfalls der in Berlin aktive US-Fahrdienst Uber.
Auch Autohersteller tüfteln an eigenen Lösungen
Einer der Gründe könnte sein, dass die Autohersteller an eigenen Lösungen tüfteln. So bietet Moovel in Hamburg in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Verkehrsverbund (HVV) eine ähnliche Plattform an. Da die App aus dem Hause Daimler stammt, sind dort auch überwiegend Angebote aus den Tochterunternehmen des Konzerns gebündelt, beispielsweise My-Taxi und Car-2-Go, aber auch ein Bikesharing-Anbieter ist dabei. In Stuttgart, Karlsruhe und Aschaffenburg arbeitet Moovel ebenfalls mit den dortigen Verkehrsunternehmen zusammen.
Bemühungen wie die der BVG und Moovel gibt es schon länger. So ist 2012 die Deutsche Bahn mit ihrem Mobilitätsportal Qixxit gestartet, das eine Reiseplanung von Tür-zu-Tür ermöglichte. Das DB-Spinoff stellte sein Geschäftsmodell 2017 allerdings um und konzentriert sich seitdem auf die Reiseplanung für die Langstrecke. Über das Portal können Kunden heute Bus-, Bahn- und Flugverbindungen vergleichen und teilweise direkt buchen. Als einen der Gründe nannte CEO Stefan Kellner damals den hohen technischen Aufwand.
Technik und Datenmanagement sieht auch Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) als eine der größten Hürden auf dem Weg, eine bundesweite App für den öffentlichen Nahverkehr zu entwickeln: „In Deutschland gibt es hunderte verschiedene Verkehrsverbünde und -unternehmen, die in punkto Digitalisierung unterschiedlich weit sind“, sagt Wolff. Um sie auf den gleichen Stand zu bringen, startete der Verband 2015 ein Projekt.
Unter dem Namen „Mobility Inside“ will der VDV im Sommer einen ersten Piloten einer Plattform starten, über die bereits vorhandene Mobilitätsmarktplätze wie Jelbi miteinander gebündelt und verknüpft werden können. Daneben sollen Verkehrsunternehmen, die noch keine eigene Plattform haben, eine im Rahmen des Projekts entwickelte App nutzen können.
Das Ziel des vom Bundesverkehrsministerium geförderten Projekts: Reisenden eine Tür-zu-Tür-Planung und Ticketbuchung zu ermöglichen, und zwar über die Grenzen der Bundesländer hinweg. Für die Reise von Hamburg nach München mit Bus, ICE, U-Bahn und Carsharing-Auto wäre dann nur noch eine Buchung und Bezahlung nötig.
Die EU droht, den Vertrieb für Drittanbieter wie Google zu öffnen
Die Bemühungen der Verkehrsunternehmen haben einen Grund. Die Zeit drängt. Klappt es nicht, eine branchenübergreifende Lösung zu entwickeln, droht die EU, den Vertrieb für Drittanbieter wie Google zu öffnen. Für die ÖPNV- Anbieter ein Horrorszenario: Sie riskieren in diesem Fall, ihre Rolle als Komplettdienstleister in Sachen Mobilität und das Vertriebsmonopol an Technologieunternehmen zu verlieren, warnt VDV-Hauptgeschäftsführer Wolff: „Die Branche als verlässlicher Partner der Kunden darf nicht zum ‚Lohnkutscher' degradiert werden“, mahnt er.
Wer das Rennen um den entstehenden Milliardenmarkt für neue Mobilitätsangebote macht, ist laut einer Studie der Unternehmensberatung Oliver Wyman allerdings noch völlig offen. Um die eigene Plattform zum Erfolg zu führen, sei ein hoher Einsatz nötig, kommentiert Joris D’Incà, Partner bei Oliver Wyman und Autor der 2018 veröffentlichten Studie „Mobility 2040: The Quest for Smart Mobility“.
„Es gilt, alles auf eine Karte zu setzen – auch wenn man dafür über seinen Schatten springen muss.“ Dazu gehöre auch, dass eine Bahn-App eine Busverbindung empfehle, wenn diese günstiger und schneller sei. „Nur wer den Mut hat, sich selbst zu kannibalisieren, kann in dem neuen Markt gewinnen“, so der Berater, der neue Allianzen über Branchengrenzen hinweg erwartet: „Eine überzeugende Produktvielfalt gekoppelt mit dem direkten Kundenzugang wird kein Anbieter alleine hinbekommen.“
Eine ungewöhnliche Allianz wurde kürzlich in Frankreich verkündet. In Nizza hat sich der dortige ÖPNV-Anbieter mit Uber zusammengetan. Der US-Fahrdienst übernimmt nachts die Fahrten in die Außenbezirke, wenn keine Busse und Bahnen mehr fahren. In Deutschland wird das Projekt kritisch beäugt. Hierzulande sind die Vorbehalte gegen die „Datenkraken“ aus den USA groß.
Fest steht: Geld verdient in diesem Bereich derzeit niemand. Das sei jedoch vorerst nicht das Ziel, sagte BVG-Finanzchef Henrik Haenecke bei der Jelbi-Vorstellung in Berlin. „Im Mittelpunkt steht das Ausprobieren.“
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