Fritz-Stern-Lecture des Bundespräsidenten: "Ein Dauerregen an Information ist nicht Wissen"
Steinmeier beklagt einen Verlust an Vernunft in Deutschland. Zudem warnt er vor einer Radikalisierung des Denkens durch Hass und Häme in Online-Kommentaren.
"Der Glaube an eine bessere Welt kann Berge versetzen, aber nur die Vernunft vermag uns vor gefährlichen Um- und Irrwegen zu bewahren." Mit diesen Worten hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor den Verführungen durch ein scheinbar grenzenloses Informationsangebot gewarnt. Die Urteilskraft und die Fähigkeit zum Abwägen seien die entscheidenden Tugenden zur Bewahrung der Demokratie, sagte Steinmeier in der Fritz-Stern-Lecture in der American Academy am Dienstagabend.
Was treibt die wütende Sehnsucht nach Sündenböcken?
Der Vortrag über "Demokratie und Vernunft" war dem Gedenken an den großen deutsch-jüdischen Historiker Fritz Stern gewidmet, der 1938 vor den Nazis aus seiner Geburtsstadt Breslau fliehen musste, in New York eine neue Heimat fand und dort zu einer weltbekannten Geistesgröße wurde. Stern habe mit dem Nachdenken über den Verlust der Vernunft seine Karriere als Historiker begonnen, leitete der Bundespräsident seinen nachdenklichen Vergleich der damaligen und heutigen Gefährdungen der Demokratie ein.
"Wie war es möglich, dass Deutschland in Irrationalität und Barbarei versank?" Das war die Kernfrage für den jungen Doktoranden Stern an der Columbia University gewesen. Zugleich warnte Stern vor "Kulturpessimismus als politische Gefahr". Und vor einer Flucht ins Emotionale, in Obskurantismus und - in Thomas Manns Worten, den Stern zitierte - in "sentimentale Rohheit unter der Maske des Gemüts, der Germanentreue etwa".
Auch heute "hat die Vernunft nicht gerade Konjunktur", beobachtet Steinmeier. "Woraus speist sich der gravierende Verlust an Vernunft? Was treibt die wütende Sehnsucht nach Sündenböcken? Warum findet der Appell an unsere niedrigsten, nicht an unsere besten Instinkte so viel Gehör?"
Vier Bedrohungen der Vernunft in der Demokratie
Der Bundespräsident macht vier Gefahren für die Demokratie aus. Erstens die Überforderung des menschlichen Verstands und der Emotion durch die wachsende Komplexität einer vernetzten Welt. Zweitens die Herausforderung, Antworten auf die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der Globalisierung zu finden. Drittens die kommunikative Herausforderung, das politische Handeln in dieser Lage zu vermitteln. Viertens das Überangebot an Information und Wissen, das dazu führe, dass Evidenz und Vernunft nur noch wie eine Option unter vielen wirken.
Die Überforderung durch Komplexität reduziere die Fähigkeit zur Empathie, warnte der Bundespräsident. Und in der Folge zu Abgrenzung, Ausgrenzung und der Ablehnung des Fremden. Mit dem Verlust an Offenheit riskiere eine Gesellschaft zugleich die Fähigkeit zum friedlichen Ausgleich einzubüßen.
Das Land ist Gewinner der Globalisierung, aber Einzelne sind Verlierer
Deutschland gehöre insgesamt ohne Zweifel zu dem Gewinnern der Globalisierung. Man könne aber nicht übersehen, dass Einzelne sich als Verlierer empfinden, und sei es auf Grund wachsender Ungleichheit. Objektive Zahlen und subjektive Empfindungen geraten in Widerspruch. "Wie soll ich die täglichen Schreckensbilder des Nahen Ostens oder in Teilen Afrikas abwägen gegen die unbestreitbaren Fortschritte in Bildung, Gesundheit uns Armutsbekämpfung in vielen Ländern?", fragte der Bundespräsident. Was ist das Klimaabkommen von Paris wert im Vergleich zum Ressourcenverbrauch und dem Plastikmüll in den Weltmeeren?
Orientierungsverlust drohe auch, weil viele den Zugang zu Informationen, die sie früher ohne Internet nicht hatten, mit Wissen verwechselten. Wissen sei etwas anderes, nämlich nachprüfbare Fakten in gesicherten Zusammenhängen. Ein "Dauerregen von Informationen" bedrohe die Standards der Objektivität.
Demokratie ist langsam wie eine Galapagosschildkröte
Steinmeier warnte auch davor, die persönliche Erfahrung zum wichtigsten Beurteilungskriterium zu machen. Persönlicher Bezug sei "ein Argument, aber noch nicht die ganze Wahrheit". Wer die beiden Dinge verwechsele, "glaubt auch, dass eine Zeitung lügt, wenn sie berichtet, was sich nicht mit den persönlichen Erfahrungen deckt". Besorgnis äußerte der Bundespräsident über "Häme, Hass und Härte vieler Online-Kommentare". Das gehe an einer Gesellschaft nicht spurlos vorüber. "Die Dauergewöhnung an Entgleisungen führt zur Radikalisierung im Denken." Und dann womöglich auch zur Radikalisierung im Handeln.
Deshalb sei der Respekt vor der Vernunft so wichtig. "Die Zersetzung der Vernunft ist der Anfang der Zersetzung der Demokratie." Demokratie wirke manchmal "wie eine Galapagosschildkröte", sagte Steinmeier, der gerade von einer Südamerikareise auf den Spuren Alexander von Humboldts zurück ist: "zu langsam und zu bedächtig". Autoritäre Regime übten wegen ihrer schnelleren Entscheidungswege Faszination aus.
In Wahrheit aber sei die Entscheidungsfindung einer offenen Gesellschaft, die sich an Fakten, an Wissen und an der Kraft der Vernunft orientiere, der Diktatur überlegen. "Wir brauchen keinen Kulturpessimismus", da stimme er mit Fritz Stern überein, schloss Steinmeier. Sondern "Neugier und Kreativität. Zuversicht und Mut. Und einen genauen, prüfenden Blick, um in der Überfülle" der Informationen "den Weg in eine demokratische Zukunft immer wieder neu zu gestalten".