Nach dem Putschversuch: Die Wirtschaft der Türkei leidet unter dem Streit mit der EU
In der türkischen Wirtschaft schlummern gewaltige Kräfte und große Risiken. Seit dem Putschversuch sind Investoren verunsichert. Ein Streifzug durch Istanbul
Die kurvige Zufahrt zur Börse von Istanbul ist von Metallzäunen mit Stacheldraht gesäumt. Das Gebäude hat viele Winkel, schlecht einsehbare Ecken. Das war wohl schick bei der Einweihung 1985 – machte die Lage aber noch unübersichtlicher am späten Freitagabend des 15. Juli 2016: Panzer röhrten sich den Hang mit Blick auf den Bosporus hinauf, Putschisten eröffneten das Feuer. Sie wollten den Handelssaal kapern, um beim Börsenstart am Montagmorgen das Marktgeschehen kontrollieren zu können. Wie den gesamten türkischen Staat.
Der Versuch scheiterte blutig. Zwei Menschen, ein Sicherheitsmann und ein ziviler Angestellter der Börse, starben bei den Gefechten. 40 wurden verletzt. An die „Märtyrer“ erinnert ein tischgroßer Gedenkstein aus Marmor mit Inschrift und Fotos der Opfer am Fuße zweier haushoher türkischer Flaggen. In ihrem Schatten steht die Skulptur „Bulle und Bär“, das Symbol für steigende und fallende Kurse.
Händler gehen lautlos Geschäften nach
Viereinhalb Monate nach dem Putschversuch gehen die Händler fast lautlos den Geschäften nach. Betriebsamkeit erwecken nur die animierten Grafiken auf den riesigen Kurstafeln. Der strenge Blick einer Büste von Staatsgründer Kemal Atatürk wacht über den Raum.
Zwei Stockwerke darüber sitzt Börsenchef Himmet Karadag in seinem 150 Quadratmeter-Büro voller Flaggen, Ledersessel und Schränken aus schwerem Holz und berichtet von den „Säuberungen“, mit denen der 42-Jährige seit seinem Amtsantritt im April beschäftigt ist. 120 der rund 1000 Mitarbeiter habe man identifiziert, 55 entlassen. Ihnen habe man verdächtige Transaktionen nachweisen können, wie Überweisungen an eine Bank der Gülen- Bewegung, die den Putsch organisiert haben soll. Was aus den Mitarbeitern geworden ist, wisse er nicht.
Dann skizziert Karadag, wie die Entscheider in der Türkei trotz des verschärften Streits mit der Europäischen Union einen Totalabsturz der Wirtschaft verhindern wollen. Der Beitrag seiner Börse sind Planungen für den Handel mit scharia-konformen Finanzprodukten, was Investoren vom Persischen Golf ansprechen soll. Eine andere Idee: Man möchte Privatinvestoren Beteiligungen an Präsident Recep Tayyip Erdogans milliardenschweren Infrastrukturprojekten ermöglichen.
Türkei hat einige strukturelle Probleme
So oder ähnlich verlaufen viele Gespräche auf einer Rundreise durch den Großraum der 15-Millionen-Einwohner-Metropole Istanbul in der vergangenen Woche. Die staatliche Standortförderagentur ISPAT vermittelt hochrangige Gesprächspartner – vom Vize-Premierminister Mehmet Simsek bis zum nationalen Star-Ökonomen Professor Ege Yazgan von der liberalen Bilgi Universität.
Die meisten beschreiben recht schonungslos die Lage und diskutieren strukturelle Probleme der Türkei: die chronisch negative Handelsbilanz, das Übergewicht des Dienstleistungssektors im Verhältnis zur Industrie, der sehr große Anteil des privaten Konsums an der gesamten Wirtschaftsleistung gepaart mit einer sehr niedrigen Sparquote und relativ hoher Verschuldung der Bürger.
Oft hört man, man müsse die Forschungs- und Entwicklungsausgaben steigern. Andernfalls werde es kaum gelingen, Waren mit hoher Wertschöpfung in der Türkei zu produzieren. Diese Probleme sind Argumente für die türkische Regierung, offen zu bleiben für Geld und Ideen aus West und Ost. Man sucht ausländische Direktinvestitionen und Know-how, neue Arbeitgeber für die 800.000 jungen Menschen, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt drängen. Experten fürchten, dass eine für 2016 erwartete Wachstumsrate von rund 2,5 Prozent nicht genügen dürfte, die Arbeitslosenquote von derzeit über zehn Prozent zu senken. Um die Jahrtausendwende lagen die Wachstumsraten bei zehn Prozent.
Gründer tüfteln herum wie ihre Kollegen in Berlin-Mitte
„Die Makro-Zahlen sind relativ stabil“, urteilt Georg Karabaczek, Leiter der österreichischen Investitionsagentur Adavantage Austria in Istanbul, ein Gesprächspartner, der nicht von der Regierung vermittelt worden ist. Bei den rund 150 österreichischen Niederlassungen im Land – Deutschland hat mehr als 5000 – spüre er eine „abwartende Haltung“. Was macht Erdogan? Bringt er das Vertrauen in den Standort zurück? „Wird die Todesstrafe eingeführt, beendet das die EU-Perspektive komplett. Das wäre schade“, sagt Karabaczek.
Das Land hat gewaltiges Potenzial: Firmengründer hätten hier „grenzenlosen Spielraum“, fasst es Jan Nöther, Chef der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer zusammen. Der Schutz des Eigentums sei ein hohes Gut, was man zum Beispiel in China nicht überall behaupten könne. Für Unruhe bei Ausländern sorgt lediglich ein Bruch mit der Rechtspraxis, räumt er ein: Die Regierung hat seit dem Putschversuch mehr als 500 Privatunternehmen unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt, nachdem sie Eigentümer beziehungsweise Geschäftsführer als Gülen-Unterstützer identifiziert haben will.
Reformen zum Arbeitsmarkt und zur Rente
Abgesehen von einigen Stilbrüchen pflegt die Regierung einen Wirtschaftsliberalismus angelsächsischer Prägung, was auch daran liegen dürfte, dass viele Wirtschaftspolitiker in den USA und Großbritannien studiert haben. Das Parlament hat allein in diesem Jahr mehrere Reformen beschlossen: zum Arbeitsmarkt, zur Rente, zur Förderung von Forschung und Entwicklung, für besseren Kapitalzugang von kleinen und mittleren Unternehmen. Ein zuletzt deutlich gestiegener Mindestlohn auf umgerechnet 450 Euro im Monat hält die Konsumenten bei Laune.
Zudem hat Ankara noch Spielraum – wegen seiner niedrigen Staatsverschuldungsquote von knapp 38 Prozent des Inlandsprodukts. Nach den Maastricht-Kriterien der EU wären 60 erlaubt, in Deutschland waren es zuletzt fast 78 Prozent, in Italien sogar 158 Prozent. Mit 75 Millionen Einwohnern ist das Land als Absatzmarkt und Produktionsstandort interessant.
Gründerstimmung wie in Berlin-Mitte
Eine zumindest im Westen der Türkei zunehmend gut ausgebildete Jugend lockt erste High-Tech-Arbeitgeber. Zu beobachten ist das im „Teknopark“, am Rande von Istanbuls zweitem Flughafen am östlichen Stadtrand. Bei der dortigen Niederlassung des größten deutschen Softwarekonzerns SAP arbeiten immerhin 36 „Early Talents“, wie der deutsche Chef sie nennt. Sie tüfteln in luftigen Büros samt angeschlossener Komfortzone mit Dartscheibe und Spielekonsole mindestens so intensiv an ihren Codes wie ihre Kollegen in Berlin-Mitte.
Zwei Flure weiter stellt der Technologiepark Büroplatz für sehr junge Start- ups zur Verfügung. Die kleine Tisch-Insel der Gründer der Firma Indoora ist verwaist. Sie sind in Berlin, um sich neuen Input zu holen. Und Kunden für ihre Handy-Software, die eine sehr genaue Standortbestimmung erlaubt. Das ist zum Beispiel hilfreich für die Navigation auf einem Messegelände. Mit der Istanbuler Messe sei man schon im Geschäft, berichtet ein Vertreter der Teknopark-Verwaltung. Vielleicht auch bald mit der Messe Berlin?
Ideen von Freiheit und Bürgerrechten
Ob beim Seidenschalhändler im Großen Basar oder in der Zentrale des Autozuliefererverbandes Taysad mitten im Industriepark vor den östlichen Toren der Stadt: Niemand glaubt, dass alle Lichter ausgehen, sollte der Türkei auf lange Sicht die EU-Perspektive genommen werden. „Wir haben eine seit Jahren bestehende Zollunion“, erklärt Taysad-Präsident Alper Kanca, der als Student viele Jahre in Wien gelebt hat und berichtet, wie er und andere dort aufgeschnappte Ideen von Freiheit und Bürgerrechten zurück nach Istanbul gebracht haben. „Bleibt die Tür zur EU zu, wäre es eher für uns persönlich eine Enttäuschung. Wir stellen gerade fest, wie schlecht uns unsere guten Freunde kennen.“
Die Recherchereise wurde von der Standortagentur ISPAT organisiert, die Redaktion trägt einen Großteil der Kosten.