Zeit der Wahrheit in Wolfsburg: Die Könige von VW sind nicht mehr unantastbar
Staatsanwälte wollen der ehemaligen und aktuellen VW-Führung den Prozess machen. Endlich eine gute Nachricht für Kunden, Mitarbeiter, Anleger. Ein Kommentar.
Zurückweisungen, Beschwichtigungen und Leugnungen: Es dauerte keine Stunde, da hatten die Anwälte von Martin Winterkorn, Herbert Diess und Hans Dieter Pötsch ihre Sicht der Dinge in die Öffentlichkeit getragen. Anklage gegen die einstigen und aktuellen Top-Leute des Volkswagen-Konzerns? Keiner der drei Spitzenmanager von VW will im Sommer 2015 eine Ahnung davon gehabt haben, dass in ihrem Konzern seit Jahren einer der größten Betrugsfälle der deutschen Wirtschaftsgeschichte läuft - und vor allem: Dass die Bombe platzen wird, weil amerikanische Behörden genauer als deutsche hingesehen haben. Und dass nicht nur Millionen Autobesitzer um ihr Erspartes betrogen sind, sondern auch die Anleger des VW-Konzerns.
Nichts gewusst, nichts gesehen: Seit Jahren dieselbe Vertuschungstaktik. Und noch immer lehnen die hohen Herren aus Wolfsburg jede Verantwortung ab.
Doch nun sieht es nach einer Wende aus. Eine, die bei vielen Menschen ein Gefühl der Genugtuung auslösen wird.
Bei Autobesitzern, die trotz des Betrugs von Volkswagen noch immer wie lästige Bittsteller behandelt werden. Bei Aktienbesitzern, die ihr Geld in einen der vertrauenserweckendsten Titel der deutschen Wirtschaft, in Volkswagen, investiert haben und denen außer Verlusten nichts bleibt.
Der Vorwurf: Das Top-Management kannte Art und Ausmaß des Dieselskandals
Ja, auch Mitarbeiter und Händler und Zulieferer werden so etwas wie Genugtuung empfinden. Denn auch sie haben in die Marke, in die Größe und die Führung vertraut.
Zu Unrecht, wie die Staatsanwälte in Braunschweig in mehreren hundert Seiten Anklageschrift beweisen wollen. Denn ihr Vorwurf lautet: Die drei Spitzenmanager von Volkswagen haben sehr wohl Art und Ausmaß des Dieselskandals im Sommer 2015 gekannt und trotzdem die Anleger im Unklaren über die wirtschaftlichen Folgen gelassen. Bewusste Täuschung nennt man das.
Dass die Staatsanwälte sich ihrer Recherchen und Dokumente sicher sind und nun, nach Jahren, Anklage erheben, ist ein gutes Zeichen für den Rechtsstaat.
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Denn lange sah es so aus, als ob das Recht im Volkswagen-Dieselskandal ein selektives ist: Während betrogene Autofahrer und Anleger in komplizierten Verfahren um ein bisschen Schadensausgleich mühsam jahrelang kämpfen müssen, kommen die Verantwortlichen an der Konzernspitze von VW ungeschoren davon. Weil sie glauben durften, dass man die Spitze eines Weltkonzerns, eines Mega-Arbeitgebers mit Staatsbeteiligung nicht belangen wird. Weil sie hofften, dass sie unantastbar sind.
Aber sie sind es nicht.
Für Volkswagen geht es an diesem Tag aber nicht nur um Recht und Gerechtigkeit. Auch wenn das für das Selbstverständnis des Unternehmens wichtige Fragen sind. Denn Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit bei der Aufarbeitung eines solchen Skandals sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg eines jeden Unternehmens. Für die Marke, den Konzern und seine Mitarbeiter steht viel mehr auf dem Spiel.
VW steht vor einem Komplett-Umbau
Grundlegende Veränderungen auf den Welt-Automobilmärkten und das raumgreifende Bewusstsein, dass sich Mobilität vor dem Hintergrund der Klimaveränderungen wandeln muss, stellen den größten Autobauer der Welt vor gewaltige Herausforderungen.
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Die Aufgabe ist keine Geringere, als einen Komplettumbau. Einer Operation am offenen Herzen gleich müssen bewährte Modelle und Antriebe und Strukturen erhalten werden, weil sie das Geld bringen für das Unternehmen der Zukunft. Eine solche Veränderung schafft natürlich Verunsicherung - bei Mitarbeitern, Zulieferern und Kunden gleichermaßen. Nicht mehr jeder wird gebraucht, nicht jede Entscheidung ist sofort aus sich heraus schlüssig. Weshalb die Integrität, die Glaubwürdigkeit der Führung wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Vertrauen in ihre Pläne für den Umbau entsteht - und Volkswagen auch übermorgen noch ein bedeutender Weltkonzern ist.
Gerade dieses Vertrauen in den Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess und den Chefaufseher Dieter Pötsch ist durch die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben, aber gestört. Und zwar so empfindlich, dass sich die Frage stellt, ob beide auf dem äußerst schweren Weg, den das Unternehmen zu gehen hat, noch führen und Richtung geben können, oder ob sie zum Ballast werden.