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Berliner Mischung. In den Berliner Höfen wird und wurde gearbeitet und auch gewohnt. Mit der digitalen Industrie wird das künftig noch besser möglich sein.
© dpa

Berliner Wirtschaft: Die Industrie kommt in die Stadt zurück

Digitalisierung macht es möglich: Großstädte wie Berlin werden wieder attraktiver für das verarbeitende Gewerbe. Vor allem wegen Universitäten und Start-ups.

Klaus Wowereit wird die Einschätzung zugeschrieben, ein Arbeitsplatz in der Gastronomie sei nicht weniger wertvoll als ein Job in der Industrie: Hauptsache Arbeit. Im Laufe seiner Amtszeit im Roten Rathaus erkannte Wowereit jedoch, dass die Einkommen im verarbeitenden Gewerbe viel höher sind als im Dienstleistungsbereich, und dass Arbeitsplätze in der Industrie weitere Arbeitsplätze bei industrienahen Dienstleistern und Lieferanten bedeuten. Kurzum: Viel Industrie ist gut für Wertschöpfung, Wachstum und Wohlstand. Noch unter Wowereit begann der Senat mit der Entwicklung eines Masterplan Industrie und eines Steuerungskreises, angesiedelt beim Regierenden Bürgermeister, um die schwache industrielle Basis der Hauptstadtwirtschaft zu stärken.

Böckler-Stiftung des DGB hat die Studie bezahlt

Rund 200 000 Industriearbeitsplätze gingen nach der Vereinigung verloren. Seit ein paar Jahren ist der Trend gestoppt, heute verdienen 117 000 Berlinerinnen und Berliner ihren Lebensunterhalt in einem Industriebetrieb, knapp zwei Prozent mehr als 2010. Mit Hilfe der Digitalisierung könnte der Aufholprozess neuen Schwung bekommen. Diese Hoffnung nährt jedenfalls eine von der Böckler-Stiftung finanzierte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und der Dortmunder Sustain Consult, die am Mittwoch vorgestellt und kommentiert wurde. Neben dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller war der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann aus Frankfurt am Main angereist. TU-Präsident Christian Thomsen war zugegen, selbstverständlich die Autoren der Studie sowie der berlin-brandenburgische DGB-Chef Christian Hoßbach.

Müller: Wir haben auf die richtigen Pferde gesetzt

Es sind vor allem die Gewerkschaften, die seit Jahren für Belange der Industrie trommeln, weil sie hier die meisten Mitglieder haben. Müller bedankte sich denn auch bei den Gewerkschaften für die Böckler-Studie und freute sich über die „spektakulären Ergebnisse“. Vor allem wegen der Digitalisierung wird Berlin großes Potenzial bescheinigt. „In einigen Bereichen haben wir wohl auf die richtigen Pferde gesetzt“, sagte Müller und meinte damit die Investitionen in den Wissenschaftsstandort, der nun die Grundlage bilde für die „Re-Urbanisierung der Industrie“. Die vielen Hochschulabsolventen in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern (MINT) und die erstaunlich hohe Zahl an Gründungen im verarbeitenden Gewerbe lassen aus Sicht der Wissenschaft den Schluss zu, dass die Industrie in der Stadt eine gute Perspektive hat. Von einem „Schmierstoff der Modernisierung und Digitalisierung“ sprach Martin Hornig vom DIW mit Blick auf die regionale Wissenschaftslandschaft.

Es gibt wenig mittelgroße Betriebe in Berlin

Indes ist Berlin von einer „Parallelentwicklung“ (Jörg Hofmann) geprägt, die durchaus Sorgen bereitet. Hier gibt es einerseits große Betriebe, etwa die Siemens-Fabriken, die Motorenfertigung von Mercedes in Marienfelde, das BMW-Motorradwerk in Spandau oder der Stadler-Bahnwerk in Pankow; von den 117 000 Industriebeschäftigten arbeiten gut 35 000 in solchen Großbetrieben. Auf der anderen Seite der Betriebsgrößenskala stehen sehr viele Unternehmen mit weniger als 100 Mitarbeitern. Beides ist problematisch: Die Großbetriebe werden von außerhalb Berlins gesteuert, und administrative Funktionen sowie Forschungs- und Entwicklungsabteilungen sitzen zumeist bei der Zentrale. Und die kleinen Firmen haben häufig keine eigenen Entwickler, sodass sie die Digitalisierung zu verschlafen drohen.

Hofmann: Ein Lab ist schick, reicht aber nicht

Digitalisierung und Dekarbonisierung als die großen Transformationstreiber ermöglichen nach Einschätzung des IG Metall-Chefs die „Integration der Parallelwelten“, wenn aus den Innovationen auch konkrete Produkte und Wertschöpfungsprozesse werden. Auf diesem Feld stünden die industriellen Cluster in Baden-Württemberg und Bayern jedoch „deutlich besser da“ als etwa Berlin und Nordrhein-Westfalen. „Alle wollen ein Lab in Berlin“, sagte Hofmann, „das ist schick, reicht aber nicht aus“. Am Ende müssen eben Produkte stehen, die sich verkaufen lassen. Und für die es auch Produzenten, also Fachkräfte gebe. Da moderne Industrie den Arbeitskräften Flexibilität ermögliche, erleichtere die digitale Arbeitswelt die Fachkräfterekrutierung, meinte Hofmann. Mehr als zwei Drittel der TU-Absolventen bleiben heutzutage in Berlin, berichtete TU-Präsident Christian Thomsen. Und davon wiederum arbeite die Hälfte im industriellen Bereich.

Kampf um Flächen verschärft sich

Das größte Hindernis für die Entwicklung in der wachsenden Stadt ist der Raum. Die Nutzungskonkurrenz um die Flächen wird größer, günstiger Gewerberaum ebenso knapp wie günstiger Wohnraum. Der DGB-Vorsitzende Hoßbach sieht die Industrie dabei eher in der Defensive – „was vorhanden ist, muss verteidigt werden“. Müller wiederum glaubt an die Berliner Mischung, die Nähe von Wohnen und Arbeiten, und appellierte an die Unternehmen, sich nicht auf die Innenstadt zu fokussieren. „Man kann auch in Reinickendorf oder Köpenick produzieren.“ Oder im Hinterhof, viertes Geschoss. In den ersten drei Etagen Dienstleistungen, dann zwei mit Industrie und weiter oben Wohnungen - so ungefähr stellt sich Müller ein Gebäude der Zukunft vor. Für die nächste Legislaturperiode wünscht sich der Regierungschef eine neue Internationale Bauausstellung, um Ideen für schnelles und günstiges Bauen zu kreieren. Und um Platz zu gewinnen.

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