Interview mit Gesche Joost: "Die digitale Gesellschaft ist für alle da"
Die UdK-Professorin Gesche Joost leitet das Design Research Lab der Universität der Künste und sitzt außerdem im Aufsichtsrat der SAP SE. Im Interview spricht sie über digitale Vernetzung und wie morgen unsere Stadt aussehen wird.
- Rita Nikolow
- Michael Poeppl
Eine junge Wissenschaftlerin steckt für ein Experiment Drähte in eine Banane, ihr Kollege hat sich für eine kurze Pause auf die Schaukel gesetzt. Auch Gesche Joost arbeitet in dem großen Raum des Design Research Labs an der Universität der Künste (UdK), das sie seit 2005 leitet. Dass auch ihr heutiger Arbeitstag streng durchgetaktet ist, lässt sich die UdK-Professorin nicht anmerken. Wenn Joost redet, schwingt eine Leichtigkeit mit, die andere Menschen höchstens im Urlaub ausstrahlen.
Frau Joost, laut Michael Müller können 90 Prozent der Berliner mit "Smart City" nichts anfangen. Wie lautet Ihre Definition?
Der Begriff hat ja mehrere Bedeutungen: einerseits die technologische Ebene. Durch vernetzte Technologien, durch das Internet der Dinge können Infrastrukturen – wie die Verkehrssteuerung – so gestaltet werden, dass sie intelligent funktionieren. Die Smart City ermöglicht auch neue Formen des dezentralen Produzierens: Wir können Ideen in einen Prototypen verwandeln, den wir schnell 3D ausdrucken. Das ist technisch auf der Höhe der Zeit und birgt ein großes wirtschaftliches Potenzial. Andererseits geht es um gesellschaftliche Relevanz, um die Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der digitalen Gesellschaft. Wir müssen eine Brücke zwischen den beiden Bedeutungen schlagen.
Wie sieht ein digitalisiertes Berlin 2030 aus? Wie ein Großstadt-Utopia oder wie Orwells "1984"?
Wir sind gerade an einem Scheideweg. Was wir jetzt brauchen, ist eine gesellschaftliche Reflexion: Was passiert mit unseren Daten? Was ist ein positives Szenario für Big Data, das zwischen ökonomischem Nutzen und Privatsphäre des Einzelnen vermittelt? Und bedeutet "smart" einfach nur eine Effizienzsteigerung? Meine Vision ist die einer inklusiven digitalen Gesellschaft, die den Zugang zu Wissen ermöglicht, durch digitale Schnittstellen Teilhabe eröffnet und gleichzeitig wirtschaftliches Wachstum fördert.
Kann Berlin tatsächlich DIE europäische Smart City werden, wie sich der Regierende wünscht?
Berlin hat das Potenzial: Es hat eine dezentrale Struktur von solchen Innovation Labs wie dem unseren, in denen kreative Menschen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen Neues entwickeln. Große Unternehmen eröffnen solche Labs in Berlin, weil hier international die besten Köpfe zusammenkommen. Außerdem hat Berlin eine hervorragende Hochschullandschaft, die Ausbildung, Forschung und Entwicklung bietet, sowie eine lebendige Start-up-Szene, um die uns viele Städte beneiden. Was fehlt, ist die Großindustrie. Wir sollten jedoch den Mittelstand stärker in die Digitalisierung einbeziehen, um unsere Potenziale hier zu heben. Eine digitale Strategie für Berlin sollte diese Akteure zusammenbringen und Zugänge durch Open Data, Open Access und Open Innovation schaffen.
Die Politik hat viele digitale Entwicklungen verschlafen, zum Beispiel die Einrichtung von freiem WLAN.
Sicherlich ist die Politik immer einen Schritt langsamer als die technische Entwicklung. Man muss dringend die politischen Rahmenbedingungen für mehr freies WLAN schaffen. Das würde die Zugänge erheblich verbessern
Welche Rolle könnte die Start-up-Szene für Berlins Entwicklung spielen?
Start-ups sind für Berlin die treibenden Kräfte. Denn diese Szene hat Interesse an einer starken Infrastruktur, an einer guten Vernetzung mit Venture-Kapital, an einer internationalen Vernetzung der Player. Sie ist ein guter Motor, um einerseits wirtschaftlich die Digitalisierung voranzutreiben, bringt innovative Ideen hervor und bildet andererseits solch ein starkes Wirtschaftspotenzial, dass die Politik nicht gut beraten wäre, wenn sie das nicht fördern würde. Sie muss alles daran setzen, die Start-up-Szene als wichtigen Akteur zu umsorgen und ihr die besten Rahmenbedingungen zu geben.
Auch die Wirtschaft selbst bremst, wenn es um technische Entwicklungen geht. Bestes Beispiel ist der Volkswagenskandal.
Gerade die großen, erfolgreichen Unternehmen haben ein massives Innovationsproblem. Viele der jungen Leute, die hier an der Uni arbeiten, die interdisziplinär hervorragend aufgestellt sind, fragen sich: Warum soll ich in einem Großkonzern arbeiten? Zu etabliert, verkrustete Hierarchien, langweilige Mittelmanager. Große Institutionen müssen jetzt schon dafür sorgen, dass sie neue Zugänge schaffen, zum Beispiel durch Innovation Labs, um junge Talente anzuziehen. Geschlossene institutionelle Strukturen sind für neue Ideen und Querdenker der Tod.
Im Mittelpunkt Ihrer Arbeit steht die Design-Forschung, bei der es vor allem um die Interaktion von Mensch und Maschine geht, um das Gestalten von sozialen Räumen mithilfe der Technik.
Design hat für mich kaum noch mit Ästhetik oder schönen Produkten zu tun. Unter dem Begriff "Social Design" organisieren wir viele Bürger-Werkstätten, sogenannte Living Labs. Wir setzen uns mit Bürgerinnen und Bürgern vor Ort zusammen und untersuchen: Was ist denn meine Nachbarschaft, im Sinne einer Smart City, die man selber gestaltet? Man lädt Kreative dazu ein, macht Interventionen in der Stadt und versucht zu begreifen: Was bedeutet mein Kiez, wie vernetze ich mich mit meinen Nachbarn? Wie kann ich mich aktiv als Bürger einbringen?
Wie sieht das konkret aus?
Unsere Frage am Anfang war: Kann man eigentlich von der Basis das Konzept einer smarten Nachbarschaft entwickeln? Unter anderem haben wir zusammen mit dem Senioren Computerclub auf der Fischerinsel in Berlin-Mitte einen digital-analogen Briefkasten entworfen, weil viele der älteren Bürger gar keinen Computer haben. Um an einer Online-Diskussion teilzunehmen, schreibt man seine Frage also einfach auf eine Postkarte, schiebt sie in diesen Briefkasten, der die Karte fotografiert und in einen Online-Blog hoch lädt. Das ist dann auf dem Display am Briefkasten zu sehen – die Karte ist sozusagen ins Digitale gefallen. Online wie auch analog am Briefkasten kann man nun kommentieren oder weiter verlinken. Solche kleinen Brücken sind wichtig, um Teilnahme an der Vernetzung zu ermöglichen. Keine Metakonzepte, sondern "Civic tech" – Technologien für bürgerschaftliches Engagement.
Sie haben auch andere Kommunikationshilfen entwickelt.
Ein anderes Beispiel wäre unser Handschuh für taub-blinde Menschen, die über ein eigenes Alphabet namens "Lorm" kommunizieren: Sie berühren auf der Handfläche ihres Gegenübers bestimmte Punkte, die für verschiedene Buchstaben stehen. Wir haben einen "Lorm-Handschuh" mit Textilsensoren entwickelt, durch den diese Gruppe nun auch über längere Distanzen kommunizieren – und auch twittern und mailen kann. Das ermöglicht eine direkte Teilhabe und fördert ganz praktisch Inklusion.
Sie waren 2013 als „Internet-Ministerin“ im Team von Peer Steinbrück im Gespräch. Wie hätte Ihre Politik ausgesehen?
Ich hätte es erst einmal richtig gefunden, dass man ein so wichtiges Thema wie Innovation und Digitalisierung in einer Position bündelt und nicht auf drei Ministerien verteilt. Digitale Bildung ist eines meiner wichtigsten Themen, da wir hier in Deutschland im europäischen Vergleich zurückfallen. Sie ist der Schlüssel für gute Jobs und für wirtschaftliches Wachstum. Darüber hinaus interessiert mich eine übergreifende Datenpolitik, die Open Data stärkt, Big Data im angemessenen Rahmen ermöglicht und gleichzeitig personenbezogene Daten schützt.
Ihre Forschung wird auch von der Industrie finanziert. Haben Sie keine Angst vor Abhängigkeiten?
Ich sehe in der Kooperation mit Wirtschaft und Industrie große Chancen, und zwar nicht in dem Sinn, dass wir alle nur noch kommerzielle Forschung betreiben, sondern dass wir die Chance haben, unsere Forschung auf breitere Beine zu stellen. Grundsätzlich kann es für anwendungsorientierte Forschung sinnvoll sein, mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, um neue Technologien zu erforschen. Auf der anderen Seite erobern sich die Universitäten dadurch die Freiheit, auch andere Bereiche finanziell ausstatten zu können, die überhaupt keine wirtschaftlichen Bezüge haben – und das ist auch gut so.
Auch Ihr Design Research Lab gäbe es ohne diese Unterstützung nicht?
Dieser ganze Trakt der Uni stand 20 Jahre lang leer, weil sie es sich nicht leisten konnte, ihn zu renovieren. Meine Professur hätte es schon gar nicht gegeben. Ich habe die Mittel, auch für die 20 Mitarbeiter, selbst aus mehreren Quellen eingeworben. Schon eine absurde Situation: Wenn man etwas in der Forschung machen will, muss man sich selbst um die Finanzierung kümmern.
Wie wäre Ihr Leben ohne das Internet verlaufen?
Schon als Kind hat mich eher die pragmatische Dimension der Technik interessiert: Was kann ich durch Technologien erreichen? Die Digitalisierung potenziert einfach die Möglichkeiten der Vernetzung. Ohne das Internet wäre ich sehr viel beschränkter in der Zusammenarbeit, dem Zugang zu Wissen und dessen Verbreitung. Die Potenzierungskraft des Internets ist ja das Spannende – allein schon, wenn nur ein paar meiner 6000 Follower auf Twitter meine Nachrichten weiterschicken – wie viele Menschen man mit einem Klick erreichen kann, ist faszinierend.
Gesche Joost, Jahrgang 1974, leitet seit 2005 das Design Research Lab der Universität der Künste (UdK) in Berlin, seit 2011 auch als Professorin am Fachbereich für Designforschung. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Interaktion zwischen Mensch und Maschine. Als netzpolitische Expertin ist sie vielfältig engagiert: Unter anderem als "Internetbotschafterin für Deutschland" bei der Europäischen Union. Seit Mai 2015 sitzt Joost auch im Aufsichtsrat der SAP SE.
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