Chef von ukrainischem Gasleitungsunternehmen: „Deutschland sollte Nord Stream 1 stoppen“
Sergiy Makogon, Chef des Gasleitungsbetreibers GTSOU, erklärt im Interview, wie die Versorgung Deutschlands aufrecht erhalten wird und was der Bund tun sollte.
Wo befinden Sie sich im Moment, Herr Makogon?
Ich befinde mich an einem sicheren Ort in der Ukraine und arbeite, ebenso wie das Management von GTSOU. Leider kann ich Ihnen aus Sicherheitsgründen nicht mehr sagen.
GTSOU hat getwittert, dass Büros von Angriffen direkt betroffen sind. Können Sie schildern, wie die Lage ist?
Unser Hauptsitz in Kiew ist nicht betroffen. Aber einige Managementteams mussten ihren Standort wechseln. Denn leider wurden gestern Verwaltungsgebäude von GTSOU in Mykolaiv und Charkiw durch Artilleriebeschuss getroffen. Zudem wurden zwei Stränge der Gasleitung in der Region Charkiw durch einen Luftangriff beschädigt. Heute wurde zudem der erste Strang der Hauptgasleitung Luhansk-Lysychansk-Rubizhne im Bereich der Niederlassung Lysychansk beschädigt. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Ein Teil unserer inländischen Gasversorgung im Osten der Ukraine ist durch die Zerstörung von 14 Gasverteilerstationen beeinträchtigt. Aber die Arbeiter, die die Situation beheben sollen, sind vor Ort.
Steht das Transit-Pipelinenetz, das Gas aus Russland Richtung Westen und auch Deutschland transportiert, unter Beschuss, oder ist es bereits beschädigt?
Nein. Es ist derzeit voll funktionsfähig. [Anmerkung der Redaktion: Am Freitagmorgen meldete die Nachrichtenagentur Reuters, dass der Gas-Transport durch die Yamal-Pipeline zwischenzeitlich gestoppt wurde.] Ich verstehe, dass Sie an dieser Frage sehr interessiert sind, und für uns hat es sehr hohe Priorität, dass die Transite weitergehen. Allerdings sind die regionalen Pipelines auch für uns sehr wichtig. Sie sichern Energieversorgung der Zivilbevölkerung in dieser schwierigen Situation.
Welche Maßnahmen sind eingeleitet, um operativ überhaupt weiterarbeiten zu können?
Wir evakuieren unsere Mitarbeiter und ihre Familien, wenn möglich, und sorgen für sichere Unterkünfte. Die Mitarbeiter, die für den Betrieb benötigt werden, sind jedoch nach wie vor vor Ort – und arbeiten natürlich unter noch nie dagewesenen Umständen. GTSOU ist trotz des Krieges voll einsatzfähig und erfüllt die Bedürfnisse seiner Kunden. Und wir werden dies auch weiterhin tun. Der Gastransit nach Europa wurde nicht unterbrochen, und wir erfüllen weiterhin unsere vertraglichen, im Voraus gebuchten Transportverpflichtungen. Wir stehen in engem Kontakt mit unseren regionalen Vertretern, die uns regelmäßig über die Lage informieren. Und wir haben genug Leute vor Ort, um einen reibungslosen Betrieb zu gewährleisten. Unsere größte Herausforderung ist derzeit die Sicherheit unseres Personals vor Ort. Wir arbeiten derzeit daran, sie mit der notwenigen Sicherheitsausrüstung, mit Generatoren, speziellen Kommunikationsmitteln, Satellitenhandys und anderen Dingen auszustatten, um ihre Sicherheit zu gewährleisten.
Werden viele Ihrer Arbeiter und Angestellten von der Armee eingezogen oder melden sich freiwillig?
Das lässt sich nicht vermeiden, und viele unserer Mitarbeiter nehmen aktiv an der Landesverteidigung teil. Wir haben aber immer noch ein sehr gutes Team vor Ort und sind weiterhin voll einsatzfähig. Unsere Kunden in der Ukraine und in Westeuropa können sich auch in Zukunft auf uns verlassen.
Es wird berichtet, dass die Gastransitströme in den Westen die maximal gebuchte Kapazität erreicht haben. Ist das korrekt?
Ja. Wie bereits erwähnt, erfüllen wir weiterhin alle unsere vertraglichen, vorgebuchten Transportverpflichtungen. Das derzeitige Volumen beträgt 109,3 Millionen Kubikmeter pro Tag und liegt damit nur geringfügig unter den 109,6 Millionen Kubikmetern, die für den Transit vertraglich vereinbart wurden. Bis zum 23. Februar war das Transitvolumen gering. Mit Beginn des Angriffs wurde es von den russischen Lieferanten rasch erhöht und liegt seither bei fast 100 Prozent. Offenbar sind sowohl die Lieferanten als auch Abnehmer bestrebt, die Gasmengen für Europa zu erhöhen. Und es gibt immer noch erhebliche Kapazitäten, um die Mengen weiter zu steigern. Sollte die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 ebenfalls von den Sanktionen betroffen sein, könnte unsere Infrastruktur einen großen Teil der dort durchgeleiteten Mengen aufnehmen.
Die wichtigsten Eintrittspunkte in der Ukraine für Gas aus Russland liegen im Norden, und die wichtigsten Pipelines des Netzes führen an Kiew vorbei. Erwarten Sie während der wohl anstehenden russischen Offensiven, dass der Gasfluss gewährleistet bleibt?
Zum jetzigen Zeitpunkt sind wir voll funktionsfähig, und wir haben die Absicht, dies auch so zu halten. Wir werden uns mit allen Herausforderungen auseinandersetzen, sobald sie auftreten. Wir werden alles tun, was wir können, um unsere Kunden weiterhin zuverlässig zu versorgen.
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Glauben Sie, dass die Gaslieferungen weitergehen würden, wenn die Russland einen voll eskalierten Krieg mit massivem Artilleriebeschuss und Bombenteppichen führte?
Wenn ein solches Szenario eintreten würde, wären die Gasströme unser kleinstes Problem. Wir wären mit einer humanitären Katastrophe in der Ukraine konfrontiert, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Ich habe keine Kristallkugel und kann nicht vorhersagen, was als nächstes passieren wird. Was ich Ihnen sagen kann, habe ich bereits gesagt. Dass wir heute voll einsatzfähig sind und alles in unserer Macht Stehende tun werden, damit dies auch so bleibt. Das ist unser Beitrag in dem aktuellen Konflikt und für die Zukunft der Ukraine.
Was sollten und könnten die Europäer tun, um die operative Stabilität zu gewährleisten?
Damit die Infrastruktur von GTSOU nicht zum Ziel russischer Angriffe wird, muss sie von den Russen weiterhin als wichtig erachtet werden. Dies wird der Fall sein, wenn Alternativen wie Nord Stream 1 als Importkanal für russisches Gas nach Europa wegfallen. Insofern wäre es nicht nur aus Solidarität mit der Ukraine, sondern auch mit Blick auf die langfristige Sicherung der Gasinfrastruktur in Mitteleuropa gut, wenn auch Nord Stream 1 eher früher als später sanktioniert würde.
Darüber hinaus sollte die EU neue Pipelines zwischen der EU und der Ukraine vorantreiben. Eine direkte Verbindung zwischen Polen, der Slowakei und der Ukraine wäre eine eher begrenzte Investition mit sehr positiven Auswirkungen für beide Seiten, die Ukraine und die EU. Sie würde uns – insbesondere in diesen schwierigen Zeiten mit enormen Mengenschwankungen – erhebliche Kapazitäten für Gasflüsse in beide Richtungen bieten, je nach Bedarf und Umständen. Dies würde die Stabilität des Fernleitungsnetzes erhöhen und die Ukraine und die EU noch näher zusammenbringen.
Gibt es irgendetwas, das die deutsche Regierung tun könnte, um Sie zu unterstützen?
Deutschland befindet sich auf dem richtigen Weg. Die Absage von Nord Stream 2 war die richtige Entscheidung – für uns und für Deutschland. Da es keinen Bedarf an zusätzlichen Gaskapazitäten gab, war Nord Stream 2 von Anfang an nur ein politisches Projekt. Wirtschaftlich hat es nie einen Sinn gemacht. Aus meiner Sicht wäre es wie gesagt hilfreich, wenn Deutschland auch Nord Stream 1 stoppen würde. GTSOU könnte die Kapazitäten bewältigen. Eine steigende Abhängigkeit von der ukrainischen Infrastruktur könnte den Druck auf Russland erhöhen, seine Invasion in der Ukraine zu stoppen, und sicherstellen, dass die ukrainische Gasinfrastruktur nicht zum Ziel russischer Angriffe wird. Abgesehen davon würden wir die Unterstützung Deutschlands bei der Beschaffung aller relevanten Ausrüstungen für die Sicherheit unserer GTSOU-Mitarbeiter zu schätzen wissen. Natürlich wäre jede Initiative in oder von Russland, die darauf abzielt, diesen unprovozierten Angriff auf die Ukraine zu stoppen, ein Schritt in die richtige Richtung.
Wie gehen Sie persönlich mit der Situation um?
Wir alle in der Ukraine sitzen im selben Boot. Es ist für uns alle eine Herausforderung und schwierig. Aber es bleibt keine Zeit, viel darüber nachzudenken. Es gibt einfach so viel zu tun. Wenn wir die Invasion zurückgeschlagen haben, werden wir Zeit haben, nachzudenken und uns um uns selbst zu kümmern.