Gerhard Schröder und der Agenda-Mythos: Deutschland - ganz weit vorne
Der Altkanzler feiert seine Agenda 2010 als Auslöser des Aufschwungs. Fachleute kommen zu ganz anderen Schlüssen
Als bescheidenen Menschen kennt man Gerhard Schröder gemeinhin nicht. Seine Agenda 2010 sei „eine der Grundlagen dafür, dass wir besser durch die Krise von 2008/09 gekommen sind als andere Staaten in Europa“, tönt der Altkanzler. Später, wenn Historiker sein Wirken beurteilten, werde das „ganz sicher eine wichtige Rolle spielen“, hofft er. Ja, die Agenda: Ein „Gütesiegel“ sei sie, weltweit werde er darauf angesprochen. „Die kennt man in Paris, Seoul, Peking oder Washington.“
Derlei Lobpreisungen gibt Schröder in seinem neuen Buch zum Besten. „Klare Worte“ heißt es, an diesem Freitag stellt er es vor. Die Frage ist indes: Hat Schröder recht? Ist tatsächlich die Agenda-Politik seit 2003 dafür verantwortlich, dass Deutschland ein Jobwunder erlebt, nach dem sich andere in Europas so sehnen? Oder hätte es das auch ohne Hartz, Minijobs und Leiharbeit gegeben?
Angela Merkel jedenfalls ist ein Agenda-Fan. Den Aufschwung hält sie für eine direkte Folge der Reformen. Ohne sie „würden wir heute nicht so dastehen, wie wir dastehen“, glaubt Schröders Nachfolgerin. Und rät Europas Krisenstaaten, es den Deutschen gleichzutun.
Womöglich liegt die Kanzlerin mit ihrer Empfehlung aber falsch. Entscheidender als die Agenda-Politik sei das System der deutschen Arbeitsbeziehungen, schreiben nun vier Forscher um Christian Dustmann vom University College London im „Journal of Economic Perspectives“. Das Zusammenspiel der Tarifpartner bei der Lohnfindung und die Zurückhaltung der Gewerkschaften hätte für das Erstarken der Deutschen eine viel wichtigere Rolle gespielt. Vor allem die tariflichen Öffnungsklauseln seit Ende der 90er Jahre hätten es erlaubt, die Lage in Branchen, Regionen oder gar einzelnen Betrieben zu berücksichtigen. Die Hartz-Reformen dagegen hätten „keine entscheidende Rolle“ für den Umbau der Wirtschaft gespielt.
Tatsächlich steckte Deutschland nach der Vereinigung in einer heiklen Lage. Durch das deutsche System der Tarifpolitik seien die Arbeitskosten in der Folge spürbar gesunken. Nur so sei die Wettbewerbsfähigkeit der Exporteure zu erklären, die seit 2007 Deutschland zum Kraftzentrum Europas werden ließ.
Doch dieser Ansatz ist vielen zu einseitig. So schlicht könne man nicht argumentieren, sagt der Ökonom Michael Burda von der Humboldt-Universität. „Die Welt ist komplizierter.“ Das sieht auch Bert Rürup so, der als Chef der Wirtschaftsweisen die Agenda-Politik entworfen hat. Es gehe um ein „Zusammenwirken verschiedener Faktoren“, sagt er. Die Hartz-Politik und die Lohnmäßigung seien nur zwei Bausteine. Zudem hätten sich die Firmen neu aufgestellt und vom Boom der Schwellenländer profitiert. „Den einen, entscheidenden Punkt gibt es nicht – wenn man mit der Hand in eine Kreissäge kommt, weiß man auch nicht, von welchem Zahn man geschnitten wurde.“
Einige Reformen, für die es kein Schlagwort gibt und die mit der Agenda nichts zu tun haben, werden zudem unterschätzt. So ist das Zuwanderungsrecht in Deutschland so liberal wie in kaum einem anderen Industriestaat. „Die Beschäftigungsrekorde seit 2010 wären sonst gar nicht denkbar“, sagt Holger Bonin, Arbeitsmarktforscher beim Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Auch die Anti-Krisen-Politik der Firmen im Rezessionsjahr 2009 spiele eine große Rolle. „Viele Betriebe haben seit Ende der 90er Jahre auf Arbeitszeitkonten gesetzt. Die konnten sie nun plündern – für die Sicherung der Jobs war das viel wichtiger als etwa die Kurzarbeit“, sagt Bonin.
Wenn aber die Agenda 2010 nicht so wichtig war, wie Schröder und Merkel glauben machen wollen – taugt sie dann als Vorbild? Rürup ist skeptisch. „Es ist unmöglich, Deutschlands Geschäftsmodell zu exportieren. Es gibt ja nicht einmal ein wirklich passendes englisches Wort, das ausdrückt, was Sozialpartnerschaft ausmacht.“ ZEW-Mann Bonin warnt sogar vor Reformen nach dem Schema D. „Die Harmonisierung der Arbeitsmarkt-Politik ist ein ganz gefährlicher Trend.“ Die Kulturen in Italien, Frankreich oder Griechenland seien zu unterschiedlich. „Standardisierung macht da nichts besser.“