Dreimal mehr Windräder im Jahr: „Der Weg lohnt sich und wir haben auch gar keine Alternative“
E.on-Manager Thomas Birr und Politstratege Patrick Graichen zu Energieplänen der Ampel, falschen Gas-Träumen und dem Wunsch nach mehr Ehrlichkeit. Ein Gespräch.
Thomas Birr und Patrick Graichen kennen sich und die Geschichte der Energiewende in Deutschland gut und lange. Thomas Birr, Strategie- und Innovationschef des Energiekonzerns E.on, erlebte den vorgezogenen Atomausstieg 2011 beim Kernkraftwerksbetreiber RWE mit. Patrick Graichen, heute Direktor des Think Tanks Agora Energiewende, war damals Referatsleiter für Klima- und Energiepolitik im Bundesumweltministerium.
Heute sind sich beide einig: Die neue Bundesregierung muss jetzt mit aller Kraft die Energiewende umsetzen, sonst scheitert auch der Industriestandort Deutschland. Über große Erwartungen und falsche Hoffnungen sprechen sie im Doppelinterview.
Die künftige Ampelkoalition will möglichst bis 2030 aus der Kohleverstromung aussteigen und die deutschen Treibhausgasemissionen um 65 Prozent reduzieren. Welche Schritte müssen dafür jetzt direkt eingeleitet werden?
Patrick Graichen: Das A und O für das Erreichen der Klimaziele ist der deutlich schnellere Ausbau von Erneuerbaren Energien. Wir brauchen jetzt zügig mindestens eine Verdreifachung der Ausbaumengen bei Windkraftanlagen und Photovoltaik-Anlagen und schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren, um 80 Prozent Erneuerbare Energien bis 2030 erreichen zu können. Dafür muss ein novelliertes Erneuerbare-Energien-Gesetz spätestens bis Ende 2022 in Kraft sein. Abwarten ist keine Option.
Thomas Birr: Ausbauziele alleine lassen aber noch kein einziges Windrad entstehen und führen noch nicht zur Akzeptanz bei Nachbarn. Mit Zielen kriegt man keine Anlagen genehmigt.
Graichen: Das ist klar. Es braucht vereinfachte Artenschutzregelungen, klare Fristen für an der Genehmigung beteiligte Behörden und geringere Abstände etwa zu Drehfunkfeuern. Da gibt es einen ganzen Strauß an Maßnahmen, und die gehören alle in ein Sofortprogramm der neuen Regierung.
Birr: Und neben der Windenergie ist der Ausbau von Solaranlagen auf Freiflächen, an Fassaden, an Straßen, Schienenwegen und Lärmschutzwänden, in Mischnutzung mit Agrarflächen erforderlich. Hier geht es um die richtige Mischung aus Anreizen und Standards. Letztlich steht und fällt alles mit dem Ausbau der Infrastruktur zur Aufnahme und Verteilung der grünen Energie. Die Verteilnetze sind das Rückgrat der Energiewende, hier sind erhebliche Investitionen erforderlich.
[Jeden Morgen informieren wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, in unserer Morgenlage über die politischen Entscheidungen, Nachrichten und Hintergründe. Zur kostenlosen Anmeldung geht es hier.]
Was muss langfristig für die Energiewende passieren?
Birr: Neben Anreizen für mehr erneuerbare Energien und dem Ausbau der Netze brauchen wir einen Weg in die Sektorenkopplung. Das heißt, wir müssen die Verringerung des CO2-Ausstoßes ganzheitlich über alle Sektoren, nämlich Industrie, Transport und Gebäudebestand organisieren. Dafür müssen zum Beispiel Häuser schneller renoviert, grüne Wohnquartiere ausgebaut und der Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft für die Industrie und den Transportsektor vollzogen werden.
Graichen: Wir haben eine klare Ausrichtung am Ziel einer 100 Prozent CO2-freien, erneuerbaren Stromerzeugung. Die Internationale Energieorganisation hält hierfür für die G7-Staaten – also auch für Deutschland –, das Zieljahr 2035 für notwendig und machbar. Auf dem Weg dahin brauchen wir auch wasserstofffähige Gaskraftwerke, wie sie der Koalitionsvertrag vorsieht.
Wird der verwendete Wasserstoff grün, also aus Ökostrom erzeugt sein? Oder kommt auch blauer Wasserstoff zum Einsatz, wobei das bei der Erzeugung entstehende CO2 aufgefangen und gespeichert wird?
Graichen: Ich gehe fest davon aus, dass sich grüner Wasserstoff zu 100 Prozent durchsetzen wird. Allein schon, weil er billiger sein wird als blauer Wasserstoff, der von Gaspreisen abhängig ist und bei dem teure CO2-Abscheidung und Speicherung nötig ist.
Und woher kommt der ganze Wasserstoff?
Birr: Selbst wenn wir die erneuerbaren Energien massiv ausbauen, werden wir in Deutschland nicht ausreichend grünen Wasserstoff produzieren können. Wir reden also im Zielbild über eine grenzüberschreitende Importwirtschaft – ähnlich der, wie wir sie von fossilen Energieträgern kennen: Wir werden auch in einer zukünftigen Wasserstoffwelt eine globale Energiewirtschaft haben, mit Produzentenländern, Importeuren und Transportsystemen.
Graichen: Auch in den Szenarien von Agora Energiewende wird grüner Wasserstoff zu zwei Dritteln importiert. Das kann durchaus im Rahmen einer großen überregionalen Zusammenarbeit in Nord- und Ostsee sein, wo Offshore-Windkraft viel Wasserstoff liefern kann. In der Debatte geht es schnell um Importe aus dem Nahen Osten, dabei lohnt sich der Blick zu unseren Nachbarn wie Dänemark, die Niederlande, Polen oder Schweden.
Manche Ökonomen sagen: Wir sollten die Gas-Pipeline Nordstream 2 nicht verdammen, denn es ließe sich auch blauer Wasserstoff aus Russland importieren.
Graichen: Blauer Wasserstoff ist keine CO2-freie Technologie und wird deshalb in einer klimaneutralen Welt keine Rolle spielen. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen gibt es bei jedem Erdgas-Prozess Leckagen, dabei wird das extrem klimaschädliche Treibhausgas Methan ausgestoßen. Zum anderen funktioniert die Abscheidung von Verpressung von CO2 nicht zu 100 Prozent, auch da entstehen noch Emissionen. Alleine diese beiden Punkte machen deutlich, dass blauer Wasserstoff in einer klimaneutralen Welt keinen Platz hat.
Wir sind aber erst auf dem Weg in eine klimaneutrale Welt.
Graichen: Genau deshalb bleibt offen, ob man in einem Übergangszeitraum blauen Wasserstoff verwendet und dann erst am Schluss auf 100 Prozent grünen Wasserstoff umschwenkt. Ich kann mir etwa einen vorübergehenden Import von blauem Wasserstoff aus Norwegen vorstellen. Bei so einer Strategie muss aber von Anfang an festgelegt sein, dass perspektivisch grüner Wasserstoff daraus wird. Sonst haben wir mit blauem Wasserstoff keine Brücke in die klimaneutrale Welt, sondern ein Lock-In-Problem geschaffen - also neue Abhängigkeiten von fossilen Energien.
Birr: Insgesamt muss man schon festhalten, dass die Diskussion über grünen, blauen, türkisen oder andersfarbigen Wasserstoff in anderen Ländern etwas entspannter geführt wird als in Deutschland. Wichtig ist, dass die Wasserstoffwirtschaft erstmal entsteht und ans Laufen kommt: Verbrauch bei den Kunden, und natürlich Erzeugung, Import, Transport und Verteilung. Schauen wir mal, wie die Märkte sich entwickeln.
Welche CO2-Preise werden nötig sein?
Graichen: Wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, brauchen wir im europäischen Emissionshandel einen wesentlich höheren CO2-Preis. Nach Modellierungen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung braucht es langfristig einen CO2-Preis von 130 Euro pro Tonne, das ist mehr als doppelt so hoch wie heute. Für Sektoren wie Gebäude oder Verkehr läge der notwendige CO2-Preis sogar bei 275 Euro pro Tonne.
Welche Folgen hätte ein solcher CO2-Preis?
Graichen: Das wäre sicher ein starker Anreiz für Investitionen in emissionsarme Technologien wie Elektromobilität im Verkehrssektor oder die Wärmepumpe im Gebäudesektor. Traut sich die Politik diese hohen CO2-Preise nicht, gibt es als Alternative noch Ordnungsrecht - also zum Beispiel Verbote, Vorschriften und Verordnungen. Das ist allerdings wesentlich komplizierter.
Sie beide sind dafür, einen steigenden CO2-Preis als Marktinstrument für den Umstieg auf erneuerbare Energien voranzutreiben. Der Koalitionsvertrag zeigt wenig Ambitionen der Ampel, diesen Weg zu gehen. Ein Fehler?
Graichen: Da haben Sie den Koalitionsvertrag nicht genau genug gelesen. Da ist ein CO2-Mindestpreis von 60 Euro pro Tonne verankert, das ist eine enorme Stärkung des Marktinstruments. Außerdem soll ab 2026 ein einheitlicher europäischer Emissionshandel für Gebäude und Verkehr kommen. Und die CO2-Preise im deutschen Emissionshandel steigen in den nächsten Jahren ja auch weiter. Es sind nur bis 2025 keine weiteren Erhöhungen darüber hinaus vorgesehen, das ist den aktuell ja schon hohen Öl- und Gaspreisen geschuldet. Allen Akteuren muss klar sein: Beim CO2-Preis gibt es nur eine Richtung, und zwar nach oben.
[Wenn Sie die wichtigsten News aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräteherunterladen können.]
Birr: Man muss schauen wie der Koalitionsvertrag konkret umgesetzt wird. Was ich aber verstehe ist schon die klare Absicht, einen steigenden CO2-Preis als wichtiges Steuerungsinstrument festzulegen. Die Koalition will sich zudem für einen CO2-Mindestpreis im EU-ETS wie auch für die Schaffung eines zweiten europäischen Emissionshandels für Wärme und Mobilität einsetzen. Das geht für mich in die richtige Richtung, insbesondere in Verbindung mit der klaren Absicht, die EEG-Umlage abzuschaffen!
Ordnungsrecht oder Marktkräfte: Diese Optionen gäbe es auch bei einem vorgezogenen Kohleausstieg bis 2030, den die Ampel-Koalitionäre wollen. Wie sie das anstellen wollen, haben sie im Koalitionsvertrag offengelassen. Was ist hier besser?
Birr: In anderen Ländern, wie Großbritannien, haben im hohen Maße Marktentwicklungen und Preissignale die Kohle verdrängt. Deutschland hat sich im Vergleich mit milliardenschweren Entschädigungen den Kohleausstieg teuer erkauft. Den Fehler würde ich nicht noch einmal machen. Wesentliche Voraussetzung für das Vorziehen des Kohleausstiegs ist und bleibt jedoch ein konsequenter Ausbau von Netzen und erneuerbaren Energien . Es hilft ja nichts, weiter über irgendwelche Ausstiege zu diskutieren, wenn wir nicht wissen, wie wir den Strom in Zukunft erzeugen wollen.
Graichen: Ich gehe davon aus, dass der CO2-Preis im europäischen Emissionshandel den Kohleausstieg bis 2030 herbeiführen wird. Sollte das nicht klappen, braucht es eine nationale CO2-Preisstrategie in der Hinterhand als Ersatz.
Die Ampel-Koalitionäre wollen neue Gaskraftwerke als Übergang in die klimaneutrale Wirtschaft. Wäre der Bau solcher Kraftwerke ein notwendiges Übel oder ein historischer Fehler, also eine „Erdgas-Falle“?
Graichen: Neue Gaskraftwerke werden wir als Reservekapazitäten brauchen, wenn der Kohleausstieg kommt. Dies sind aber keine klassischen Gaskraftwerke, sondern solche, die schon deutlich vor dem Ende ihrer Lebensdauer zu 100 Prozent auf Wasserstoff umgestellt werden müssen. Dann sind sie auch zukunftsfähig.
Birr: Ich würde Herrn Graichen zustimmen: Vor dem Hintergrund des Ausstiegs aus der Kernenergie und mittelfristig dem Ausstieg aus der Kohle wird es ohne Gaskraftwerke nicht funktionieren. Aber es ist bemerkenswert, dass wir mitten in der Debatte über die Transformation schon wieder viel zu viel über Übergangstechnologien reden. Das Augenmerk der politischen Entscheidungsträger sollte sich viel stärker darauf richten, wie wir zur CO2-freien Energiewirtschaft kommen und welche Anreize wir dafür setzen müssen.
Heizöl und Gas sind keineswegs CO2-frei, doch wir benötigen die Brennstoffe im Gebäudesektor, um Häuser und Wohnungen zu wärmen. Wie lässt sich das ändern?
Graichen: In Deutschland fehlte bislang eine kohärente Strategie für den Gebäudesektor, dabei sind die jetzt nötigen Schritte eigentlich klar: Wir müssen Gebäude energetisch sanieren und dämmen, Ein- und Zweifamilienhäuser brauchen Wärmepumpen und in Innenstädten und Ballungszentren brauchen wir grüne Fernwärme. Die neue Bundesregierung hat nun die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese Schlüssel genutzt werden und wirtschaftlich sind. Der Koalitionsvertrag hat ein Ziel formuliert: Die Hälfte der Wärme soll im Jahr 2030 klimafreundlich erzeugt werden. Das ist ehrgeizig, aber machbar. Es wurden auch einige wesentliche Anker vereinbart.
Welche Maßnahmen halten Sie für wesentlich?
Graichen: Die EEG-Umlage wird 2023 abgeschafft, das macht Wärmepumpen im Betrieb billiger. Gleichzeitig wird das Ordnungsrecht angepasst: Ab 2025 muss jede neue Heizung einen Anteil von mindestens 65 Prozent Erneuerbare Energien haben. Und es sollen in allen Kommunen kommunale Wärmepläne aufgestellt werden. In Verbindung mit einem fokussiert neu aufgestelltem Förderprogramm für Gebäudesanierung ist das Ziel erreichbar, zumal die aktuell hohen Gas- und Ölpreise ja nochmal die Bedeutung unterstreichen.
Vor hohen Gas- und Ölpreisen fürchten sich ärmere Bürgerinnen und Bürger, auch durch steigende CO2-Preise. Wie sollte ein sozialer Ausgleich aussehen?
Graichen: Der CO2-Preis, der in den Bereichen Gebäude und Verkehr entsteht, muss an die Bürgerinnen und Bürger hundertprozentig zurückfließen. Das geht durch einen Zweiklang: Erstens die EEG-Umlage auf Null senken, wie es jetzt auch im Koalitionsvertrag vorgesehen ist. Das ist eine sozialpolitisch progressive Maßnahme, da der ärmere Teil der Bevölkerung einen anteilig deutlich größeren Teil seines Einkommens für Strom ausgibt. Der zweite Schritt bei weiter steigenden CO2-Preisen ist eine Pro-Kopf-Klimaprämie. Auch davon profitieren untere Einkommensgruppen relativ stärker als höhere.
Kein wirklicher Durchbruch in Sicht: „Besorgniserregende Entwicklung bei den Emissionen“. Lesen Sie hier ein Interview mit dem renommierten Klimaökonomen Ottmar Edenhofer (T+)
Den Ausbau der erneuerbaren Energien blockieren immer wieder Windkraftgegner vor Ort. Wie sollten eine neue Bundesregierung und Unternehmen damit umgehen?
Birr: Wir müssen ganz klar zwischen berechtigten Anwohnerinteressen und ideologischen Gegnern unterscheiden. Günstige Stromangebote für betroffene Kommunen und Nachbarn von Windrädern können für viel mehr Akzeptanz sorgen.
Für diese Konfrontationen braucht es Mut.
Graichen: Es ist eine politische Aufgabe, den Willen der breiten Mehrheit auch umzusetzen. An dieser Umsetzung hat es in den letzten Jahren gemangelt. Nur zur Erinnerung: Der Bahnhof Stuttgart 21 wird jetzt auch gebaut, obwohl jahrelang dagegen demonstriert wurde. Am Schluss gab es einen Volksentscheid für den Bau. Insofern kann eine Minderheit nicht darauf pochen, dass Dinge nicht umgesetzt werden, weil sie ihr nicht passen.
Birr: Absolut, es geht um demokratisch legitimierte Entscheidungen.
Sehen Sie die Bereitschaft in der Politik zur Umsetzung da?
Graichen: Ich sehe den Willen bei den Ampel-Koalitionären, ja. Je teurer CO2 auf dem Markt wird, desto klarer wird, dass der günstige Strom aus Wind- und Solarenergie kommt. Deshalb stammen die größten Verfechter der Erneuerbaren mittlerweile aus der Industrie. Dazu zählen Chemiekonzerne wie BASF, die große Mengen Ökostrom direkt von der Nord- und Ostsee zu ihrem Standort nach Ludwigshafen holen wollen. Die Zukunft des Industriestandorts Deutschland hängt am Ausbau der erneuerbaren Energien. Wer sich dagegen stellt, gefährdet den Industriestandort Deutschland.
In der aktuellen Debatte funktioniert diese Trennung nur leidlich. Auch weil politische Akteure eher zurückhaltend erklären, warum manche energiepolitischen Entscheidungen sein müssen.
Birr: Das ist ein valider Punkt. Die Transformation der Energiesysteme ist eine globale Jahrhundertaufgabe. Die Politik muss sich hier ein Stück weit ehrlicher machen und den Wählerinnen und Wählern sagen: „Es lohnt sich für uns, diesen Weg zu gehen und wir haben auch gar keine Alternative! Am Ende werden wir Lebensqualität und Zukunftsperspektiven gewinnen, aber glaubt nicht, dass diese Transformation komplett ohne Veränderung von Gewohnheiten, und Einschränkungen verlaufen wird. Die energiewirtschaftliche Transformation wird volkswirtschaftliche Kosten und Belastungen mit sich bringen.
Auch die Digitalisierung gilt als essentiell für den Industriestandort. Was muss sich hier tun?
Birr: Bei Erzeugungs- und Speicherseite können wir noch Entwicklungen erwarten, aber im Prinzip sind die notwendigen Technologien zur Stromerzeugung vorhanden. Woran wir noch arbeiten müssen, ist das digitale Betriebssystem, das die Energiewende in die Realität umsetzt. Immerhin bauen wir die komplette Energiewirtschaft einer Industriegesellschaft um: Ein System, in dem Energie bisher zentral erzeugt und über Stufen hinweg bis hin zu den Verbrauchern verteilt worden ist, wird jetzt zu einer Energiewirtschaft, in der der Strom zunehmend dezentral, abhängig von Wind und Sonne entsteht und verbraucht wird. Die Herausforderung ist, den direkten Ausgleich zwischen Erzeugung und Verbrauch möglichst dezentral zu organisieren.
Über welche Größenordnungen sprechen wir da?
Birr: Wir werden bei Eon in den kommenden fünf Jahren mehr als 37 Gigawatt an erneuerbare Energien an unsere Verteilnetze anschließen. Das ist die Leistung von rund 30 Kernkraftwerken bestehend aus tausenden Solardächern, lokalen Windparks und Solaranlagen auf Freiflächen. Gleichzeitig werden in 5 Jahren über 20 Mio Elektroautos auf Europas Straßen fahren, die Industrie wird zunehmend elektrifiziert. Hierfür müssen wir die Netze massiv ausbauen und digitalisieren. Ein Kernelement unserer Wachstumsstrategie ist eine Investitionsoffensive in die digitale Netzinfrastruktur als Rückgrat der grünen Energiewende. Insgesamt wird Eon bis 2026 rund 27 Milliarden Euro investieren, davon gehen rund 22 Milliarden Euro in den Ausbau der Energienetze.
Das klingt kompliziert.
Birr: Das Energiesystem wird so komplex, dass das es mit den Methoden von heute, mit manuellen Eingriffen nicht mehr betrieben werden kann. Deshalb muss die digitale Infrastruktur massiv ausgebaut werden. Das reicht vom möglichst flächendeckenden Ausrollen von Smart Metern, von intelligenten Zählern, über die Digitalisierung von Ortsnetzstationen bis hin zum Einsatz von künstlicher Intelligenz, Blockchain-Technologien und vorausschauenden Wartungsprozessen.
Sie kennen beide die Geschichte der deutschen Energiewende aus enger praktischer Erfahrung. Mit diesem Wissen im Hinterkopf, welche Fehler muss die neue Regierung unbedingt vermeiden?
Birr: Spontan: Keine ideologischen Entscheidungen und keine ausschließlich politisch getriebenen Entscheidungen treffen, und so nah wie möglich am Wirken der Marktkräfte entlang ein klares, transparentes und ehrgeiziges Ziel verfolgen.
Graichen: Ich würde sagen, Schluss mit Zögern und Zaudern. Wir brauchen jetzt „speed and scale“, also hohes Tempo und große Volumina – und zwar in allen Bereichen der Energiewende.