Wirtschaft: Der Schein bringt die Scheine
Steuerrecht und organisiertes Verbrechen haben traditionell eine schwierige Beziehung. Schon Al Capone wurde 1932 wegen Steuerhinterziehung verurteilt.
Steuerrecht und organisiertes Verbrechen haben traditionell eine schwierige Beziehung. Schon Al Capone wurde 1932 wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Er hatte seine Einkünfte aus Alkoholschmuggel nicht versteuert; das brachte ihn nach Alcatraz. Seine Nachfahren heute arbeiten bedeutend professioneller. So hat sich zum Beispiel nahezu geräuschlos in Europa eine organisierte Form der Steuerhinterziehung etabliert. So genannte Steuerkarusselle sollen den Bundesbürger jedes Jahr zehn Milliarden Euro kosten, weiß man im Finanzministerium Baden-Württemberg. Das entspricht ungefähr den jährlichen Steuereinnahmen des Landes Berlin.
Karussell klingt nach Spaß und Unterhaltung. Doch das täuscht. Ein Umsatzsteuerkarussell ist ein System von Scheinfirmen, die miteinander Scheingeschäfte abwickeln und Scheinlieferungen durchführen. Die größten bekannt gewordenen Umsatzsteuerkarusselle sollen aus bis zu 80 Scheinfirmen im In- und Ausland bestanden haben. Eine Scheinfirma arbeitet scheinbar legal, sie hat ein Büro, Telefon und ein Bankkonto. Sie gibt Steuererklärungen ab und ist bei den Gewerbeaufsichtsämtern gemeldet - organisiertes Verbrechen ist viel Arbeit.
Die Scheinfirmen nutzen für ihre Betrügereien das Verfahren, nach dem Umsatzsteuer erhoben wird. Das Prinzip der Umsatzsteuer lautet: Den letzten beißen die Hunde. Zwischen dem Hersteller einer Ware und ihrem Endverbraucher liegt eine mehr oder weniger lange Kette von Zwischenhändlern. Das Produkt wird auf seinem Weg zum Kunden mehrfach gekauft und weiterverkauft. Bei jedem dieser Geschäfte muss der jeweilige Verkäufer Umsatzsteuer an das Finanzamt abführen. Die Erwerber aber bekommen die Umsatzsteuer vom Finanzamt zurück, wenn sie ebenfalls Händler sind. Diese zurückerstattete Umsatzsteuer nennt man Vorsteuer. Nur der letzte in der Kette, der Verbraucher also, bekommt die Umsatzsteuer nicht zurückerstattet, ihn beißen die Hunde. So ist sichergestellt, dass jede Ware mit Umsatzsteuer belastet ist, aber, unabhängig von der Anzahl der Zwischenhändler, nur ein Mal.
Das Umsatzsteuerkarussell beruht darauf, dass der Erwerber einer Ware die Vorsteuer auch dann bekommt, wenn der Verkäufer die Umsatzsteuer nicht an das Finanzamt abgeführt hat. Das haben schon viele getan, aber nicht sehr lange. Die Finanzämter merken ziemlich schnell, wenn jemand seine Umsatzsteuer nicht zahlt. Für das betrügerische Karussell braucht man also mindestens noch einen Dritten. Man nennt ihn den "Missing Trader". Er wird oft aus jenem Personenkreis rekrutiert, der vor Kiosken steht und Bier trinkt. Oder er wird über Kleinanzeigen angeworben, die ein Nebeneinkommen ohne viel Arbeit versprechen. Man lässt ihn ein Gewerbe anmelden, ein Bankkonto eröffnen und ein paar Blanko-Unterschriften leisten. Schon hat man eine Scheinfirma und das Karussell kann sich drehen.
Der erste im Karussell kauft beispielsweise Handys für eine Million Euro zuzüglich 160 000 Euro Umsatzsteuer. Die Umsatzsteuer bekommt er vom Finanzamt zurück. Er verkauft die Handys an den zweiten ebenfalls zum Preis von einer Million Euro. Der erste muss 16 Prozent Umsatzsteuer in Rechnung stellen, und führt sie brav ab. Der zweite bekommt sie als Vorsteuer erstattet. Der verkauft nun an den Missing Trader, berechnet die Umsatzsteuer, der Missing Trader bekommt die Steuer erstattet und verkauft wieder an den ersten. Auch der Missing Trader berechnet Umsatzsteuer, führt sie aber nicht an das Finanzamt ab. Der Erste kann eine Rechnung vorweisen und bekommt deshalb vom Finanzamt 160 000 Euro erstattet. Die Handys lagen natürlich die ganze Zeit bei ihm im Lager. Insgesamt haben die Beteiligten nun 160 000 Euro "Gewinn" gemacht. So beträgt zum Beispiel der Anschaffungspreis für die Handys nur noch 840 000 Euro und das Karussell kann deutlich billiger sein, als Konkurrenten.
Bis die Finanzverwaltung dem Missing Trader, der unter Umständen von der Geschäftemacherei nichts wusste, auf die Schliche kommt, vergehen etwa sechs Monate. Wenn ihn die Steuerfahndung greift, steht er längst wieder an seinem Kiosk und trinkt Bier. Er ist ziemlich überrascht zu hören, dass er 160 000 Euro Steuern hinterzogen haben soll. So viel Geld hat er noch nie auf einem Haufen gesehen. Er hat doch nur ein paar Unterschriften gegeben und ein paar Euro dafür bekommen. Bei entsprechenden Kleinanzeigen oder Ansprechversuchen sollte man also vorsichtig sein.
Obwohl ein so kleines Karussell nicht lebensfähig wäre, sieht so das Grundprinzip aus. Da die Umsatzsteuer EU-weit harmonisiert ist, kann man solche Organisationen über ganz Europa ausdehnen.
Wahrnehmungsproblem
80 Scheinfirmen im In- und Ausland, zehn Milliarden Euro Schaden: Das Bundesfinanzministerium und auch die Oberfinanzdirektion Berlin können diese Zahlen nicht bestätigen - aber auch nicht dementieren. Die Finanzbehörden haben ein Wahrnehmungsproblem mit diesen Organisationen. Denn, vom "Missing Trader" abgesehen, verhalten sich alle Beteiligten unauffällig: Sie kaufen und verkaufen, sie zahlen Steuer. Isoliert betrachtet handelt es sich um normale Unternehmer. Überdies sind Umsatzsteuer und Vorsteuer verwaltungstechnisch nicht verknüpft. Wenn ein Berliner Unternehmer in München einkauft, dann wird die Umsatzsteuer in München abgeführt. Die Vorsteuer wird jedoch in Berlin erstattet. Zwischen den beiden Finanzämtern gibt es keinen laufenden Datenabgleich. Wie auch? Fast immer, wenn etwas verkauft oder eine Dienstleistung erbracht wird, entsteht Umsatzsteuer. Eine gigantische Datenmenge wäre abzugleichen.
Anfang 2002 trat ein Gesetz in Kraft, das den umständlichen Namen "Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz" trägt. Es enthält eine neue Strafvorschrift: Wer gewerbsmäßig oder mit einer Bande Steuern hinterzieht, muss jetzt gemäß § 370 a Abgabenordnung mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren rechnen. Bisher lag die Höchststrafe in der Regel bei fünf Jahren. Doch man merkt dem Gesetz eine gewisse Ratlosigkeit an. Es enthält eine Reihe von Maßnahmen gegen Karusselle. Ob sie funktionieren, ist zweifelhaft. Unzweifelhaft sind sie eine Belastung für Existenzgründer und bewegen sich am Rande dessen, was die Bürgerrechte des Grundgesetzes zulassen.
So wird erstens die Erstattung der Vorsteuer erschwert. Das Finanzamt kann jetzt Sicherheiten fordern. Die Verbände der Industrie, des Handels, der Banken und weitere Wirtschaftsverbände befürchten deshalb eine Verschlechterung des Klimas für Start-Up Unternehmen in Deutschland.
Zweitens erhalten die Finanzämter ein Nachschaurecht. Sie dürfen einfach mal beim Steuerpflichtigen nachschauen. Bürgerrechte sind zurzeit kein Verkaufsschlager. Trotzdem sollte auffallen, dass hier eine Grenze überschritten wird. Der Staat erhält die Befugnis ohne Verdachtsmoment, einfach nach Belieben, bei seinen Bürgern aus- und einzugehen. So etwas galt bisher als verfassungsrechtlich höchst problematisch. Darüber hinaus soll eine neue Datensammlung helfen. Beim Bundesamt für Finanzen in Saarlouis sollen Informationen zusammenfließen und verarbeitet werden. Welche Informationen, steht nicht im Gesetz.
Das Bundesfinanzministerium hat überdies einen Katalog von Merkmalen herausgegeben, an denen man Karussellfirmen erkennen soll. Sie sollen meist mit Handys, Computern oder Autos handeln. Sie hätten häufig ausländische Geschäftsführer oder Steuerberater, die nicht vor Ort wohnen, heißt es in dem Katalog. Hinzu kommt: Karussellfirmen sind erfolgreich. Der Erfolg macht sie verdächtig. Die Datensammlung in Saarbrücken wird damit möglicherweise eine Kartei Deutschlands erfolgreichster Jungunternehmer werden.
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