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Kleine Schätze: Mini-Computer sind dezent, digital, via Bluetooth können sich viele Modelle mit Handys verlinken.
© picture alliance / dpa

Immer mehr Menschen kaufen eine Hörhilfe: Der Markt mit Hörgeräten boomt

Unerhörtes Geschäft: High-Tech-Hörgeräte zahlt seit kurzem die Kasse. Der Absatz ist enorm. Jetzt wollen auch Branchenfremde wie Fielmann und Ärzte mitverdienen. Den Akustikern gefällt das gar nicht.

Eigentlich müsste Jakob Baschab rundum glücklich sein. Als Hauptgeschäftsführer vertritt er die Bundesinnung der Hörgeräteakustiker und spricht damit für eine Branche, die zu den ganz großen Gewinnern unserer Zeit gehört oder gehören müsste. Denn die Alterung der Gesellschaft und der damit zwangsläufig verbundene Schwund der Hörfähigkeit von Millionen Seniorenohren bescheren den rund 5500 Fachgeschäften eine auskömmliche Zukunft. Für gute Geschäfte in der Gegenwart sorgen die seit November massiv gestiegenen Zahlungen der Krankenkassen.

Weil das Bundessozialgericht Schwerhörigen das Recht auf eine bessere Versorgung zugesprochen hatte, haben die Kassen ihre Erstattung für Hörgeräte von 420 auf 785 Euro – pro Ohr – fast verdoppelt. Wofür die Patienten vorher aus eigener Tasche zuzahlen mussten, gibt es jetzt zum Nulltarif: leistungsstarke Minicomputer mit Digitaltechnik, mehreren Kanälen, einer Unterdrückung von Rückkoppelungen und störendem Schall sowie mindestens drei Hörprogramme. Nur wer noch mehr will, etwa Geräte, die im Ohr verschwinden, Bluetooth-Verbindungen mit dem Smartphone oder Modelle, die automatisch erkennen, aus welcher Richtung Geräusche kommen und darauf reagieren, muss dafür eigenes Geld ausgeben. Bei Kindern und Jugendlichen übernehmen die Kassen aber oft auch die Kosten von solchen High-Tech-Geräten. Der 785-Euro-Höchstbetrag gilt bei jungen Menschen unter 18 ohnehin nicht.

Die neue Großzügigkeit der Kassen hat den Verkauf mächtig angekurbelt. Um 25 bis 30 Prozent sei der Geräteabsatz im ersten Halbjahr 2014 gestiegen, sagt Baschab. 2013 hatten die Akustiker rund eine Million Hörsysteme verkauft. Gesamtumsatz: rund 1,3 Milliarden Euro.

Der Marktführer Kind senkt die Preise

Dennoch sind die vielen oft kleinen Betriebe nicht glücklich: „Der Umsatz wird in diesem Jahr eher sinken“, glaubt Baschab. „Zwar zahlen die Kassen mehr, aber die privaten Zuzahlungen nehmen ab.“ Das klingt paradox, hat aber einen wahren Kern: Tatsächlich haben viele Akustiker vorher bessere Geschäfte gemacht, weil sie den Kunden teurere Geräte angedient haben – mit privaten Zuzahlungen von 500 bis 1000 Euro.

Unter Druck geraten die kleinen Häuser aber auch durch das Geschäftsgebaren der großen. Kind, mit 570 Filialen der absolute Marktführer in Deutschland, hat die Preise für sein gesamtes Sortiment gesenkt. Die meisten Kassenpatienten verlassen die Kind-Filialen mit einem zuzahlungsfreien Gerät: 75 Prozent der AOK-Versicherten, fast alle Kinder, die bei Kind Kunden sind, zahlen nichts zu. Dennoch ist das Geschäft offensichtlich auskömmlich. „Bis zum Jahresende gehen wir von einem moderaten Wachstum aus“, heißt es auf Anfrage.

So auskömmlich, dass auch Branchenfremde angelockt werden, wie Fielmann. In 109 seiner 680 Niederlassungen verkauft der Brillenkönig bereits nicht nur Brillen und Kontaktlinsen, sondern auch Hörsysteme, Tendenz steigend. Die Zuwachsraten sind zweistellig, das Geschäftsfeld entwickle sich „erfreulich“, berichtet ein Sprecher. „Mittelfristig planen wir um 200 Hörgeräteabteilungen.“

Auch Ärzte wollen vom Geschäft profitieren

In die Zange genommen werden die Akustiker aber auch durch einen Berufsstand, mit dem sie eigentlich kooperieren: den Hals-Nasen-Ohren-Ärzten. Statt ihre Patienten mit einer Hörgeräteverordnung zum Akustiker zu schicken, wollen immer mehr Mediziner das ganze Geschäft lieber selbst abwickeln. Das Prinzip des „verkürzten Versorgungswegs“: Der Arzt schickt die Verordnung zu einem Online-Akustiker, dieser fertigt die Geräte an und sendet diese an den Arzt zurück. Eingesetzt werden die Hilfen dann in der HNO-Praxis. Eine der großen Adressen in diesem Geschäft ist die Firma Auric in Rheine, die zudem auch 50 stationäre Hörcenter – davon vier in Berlin – betreibt. Man habe bereits über 150 000 Patienten über den verkürzten Versorgungsweg mit einer Hörhilfe ausgestattet, sagt Geschäftsführer Hans-Dieter Borowsky. Mit fast allen AOKen, der DAK und den Betriebskrankenkassen ist Auric im Geschäft, rund 300 Ärzte kooperieren mit dem Versender, davon zehn in Berlin. Die Versorgung von Kindern und schwer Hörgeschädigten ist jedoch ausgenommen.

Während man bei der auch für Berlin zuständigen AOK Nordost betont, dass die Kunden frei wählen können, ob sie zum Akustiker gehen oder zum HNO-Arzt, gibt die DAK offen zu, dass der neue Weg Geld spart. Die neuen, seit November gültigen Erstattungsregeln hätten zu „massiven“ Ausgabensteigerungen geführt, berichtet DAK-Sprecher Frank Meiners. Da kommt der Deal mit den Ärzten gerade recht. „Im Schnitt liegen wir beim verkürzten Versorgungsweg circa zehn bis 20 Prozent unter den Durchschnittspreisen am Markt“, sagt Auric-Chef Borowsky.

Millionen Hörgeräte liegen unbenutzt in der Schublade

Betroffene halten das für eine Fehlentwicklung. Für die Hörgeräte hätten die Ärzte keine Qualifikation, zudem müssten die Geräte doch auch gewartet werden, gibt der Deutsche Schwerhörigenbund zu bedenken. „Die kostenoptimierte Versorgungsvariante geht eindeutig zu Lasten des Patienten, dem ein wichtiger und kompetenter Ansprechpartner verloren geht.“

So wie Renate Waible. Die Hörgeräteakustikerin betreibt ihren Laden in Berlin-Zehlendorf seit 20 Jahren. Waible nimmt sich Zeit für ihre Kunden, so viel Zeit wie nötig. Bis ein Hörgerät wirklich passt, sind immer wieder Anpassungen nötig und Nachjustierungen. „Viele Probleme treten erst mit der Zeit auf“, weiß Waible. Und auch der Umgang mit den Kunden will gelernt sein. „Viele kommen anfangs täglich, um das Einsetzen zu üben.“ Doch die Geduld zahlt sich aus. Wenn das Gerät passt und funktioniert, wird es auch getragen. Selbstverständlich ist das nicht: Fast 1,5 Millionen der Minicomputer sollen ungetragen in deutschen Schubladen liegen – totes Kapital von rund 1,5 Milliarden Euro.

Heike Jahberg

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