Arbeitswelt: „Der Druck nimmt zu“
In der digitalisierten Arbeitswelt sind Beschäftigte immer und überall erreichbar. Das hat für sie durchaus Vorteile, stresst aber auch.
Nur mal schnell beim Abendessen in die E-Mails gucken. Nur mal schnell im Urlaub mit dem Chef telefonieren. Nur mal schnell am Sonntag die Firmen-Webseite aktualisieren. Nur mal schnell … Computer, Smartphones, Cloud-Speicher – die Digitalisierung verändert längst nicht mehr nur den angestammten Arbeitsplatz im Büro. Sie macht aus jedem Ort, an dem sich Menschen aufhalten, einen Arbeitsplatz. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten sind auch außerhalb ihrer gewohnten Arbeitsumgebung und Arbeitszeiten erreichbar. Das ist ein zentrales Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die die Gewerkschaft Verdi am Montag vorgelegt hat.
Zwar schaffen die neuen technischen Möglichkeiten auch mehr Flexibilität: Arbeitnehmer sind nicht mehr zwingend an einen Ort gebunden, sie müssen nicht mehr zwingend täglich ins Büro, können Beruf und Familie möglicherweise besser miteinander vereinbaren. „Der Zwang nimmt ab, der Druck nimmt zu“, fasst Verdi-Chef Frank Bsirske zusammen. So berichten 70 Prozent der Befragten, dass die Arbeitsbelastung in den vergangenen zehn Jahren zugenommen hat. Im Osten der Republik schildern dies sogar drei von vier Beschäftigten, in den alten Bundesländern sind es rund zwei von drei.
Ost und West mit Unterschieden
Für Bsirske liegt die unterschiedliche Wahrnehmung in Ost und West 25 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht in der Mentalität der Menschen begründet. Dennoch unterscheiden sich die ehemals getrennten Wirtschaftsgebiete bis heute strukturell. Im Osten ist der Anteil der Betriebe, die Tariflohn zahlen, geringer. Es gebe dort eben anteilig weniger Gewerkschaftsmitglieder, erklärt sich Bsirske die größere Unzufriedenheit. Ganz so einfach ist es aber offenbar nicht. Denn obwohl der Anteil der stets Erreichbaren im Osten höher ist, sind die Arbeitnehmer dort weniger gestresst davon als im Westen (53 Prozent statt 59 Prozent). Überhaupt ist es schwierig, die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt per se zu verteufeln. Wissenschaftler wie der Oxford-Professor Michael Osborne erwarten zwar, dass die Digitalisierung – Zusammenwachsen von Industrie und IT, höhere Technisierung und sinnvolle Auswertung großer Datenmengen – in den kommenden zwei Jahrzehnten die Arbeitswelt nachhaltig erschüttern wird. Knapp die Hälfte der Arbeitsplätze in den USA seien durch diese Entwicklung gefährdet, schreibt Osborne in der gemeinsam mit seinem Kollegen Carl Benedikt Frey veröffentlichten Studie über die Zukunft der Beschäftigung. Das bedeutet aber nicht, dass die Betroffenen alle arbeitslos werden. Vielmehr wird es ihre Berufe in der heutigen Form nicht mehr geben – und viele werden sich dem Wandel anpassen, glaubt Osborne.
Der Wirtschaftsinformatiker teilt durchaus Bedenken, wie die von Gewerkschaftschef Bsirske. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt, die abnehmende Notwendigkeit, an einem Ort zu arbeiten, berge Nachteile. Aber: „Die Möglichkeit, dass die Digitalisierung uns mehr Vor- als Nachteile bringt, ist da.“
Mehr individuelle Verantwortung
Mehr Chancen als Risiken – das sehen naturgemäß auch die Unternehmen so. Nach amerikanischem Vorbild werden Büros optisch immer mehr zu Spielwiesen für Angestellte. Farbenfrohe Einrichtungen, mobile Stehpulte oder schallgeschützte Sofaecken zum Telefonieren sind nur die sichtbaren Merkmale des Wandels. „Viele Mitarbeiter haben zum Beispiel gar keinen eigenen Schreibtisch mehr“, berichtet Dirk Banard, Personalchef bei Vodafone Deutschland. Vor drei Jahren bezogen 5000 Mitarbeiter den neuen Firmensitz des Telekom-Konkurrenten in Düsseldorf. „Wir hatten die große Chance, durch die neue Deutschlandzentrale auch eine neue Form des Arbeitens für die Menschen zu finden“, sagt Banard. Die Beschäftigten arbeiteten dort, wo es für sie gerade am besten passe. „Bis zu 50 Prozent ihrer Arbeitszeit können sie nach Absprache mit ihrem Vorgesetzten außerhalb des Büros verbringen.“ Doch wie gut arbeiten Menschen, wenn sie nicht im Betrieb eine gewisse soziale Kontrolle durch Kollegen oder Vorgesetzte spüren? „Wir waren gespannt, was uns erwarten würde, und sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis.“ Die Produktivität sei keinesfalls gesunken. „Im Gegenteil führt das Mehr an Verantwortung für den Einzelnen in vielen Fällen zu einem Mehr an Leistung und Kreativität.“
"Winner takes it all"-Mentalität
Wissenschaftler Osborne hat noch eine weitere Erklärung für das Plus: Durch den technischen Fortschritt wüchsen die Möglichkeiten, Beschäftigte zu überwachen, auch wenn sie von unterwegs oder zu Hause arbeiteten. Die Produktivität des Einzelnen rücke in den Mittelpunkt. Eine „Winner takes it all“-Mentalität könne die Folge sein. Mehr Flexibilität bedeute auch: „Menschen verlieren den Bezug zu ihren Kollegen; es wird schwieriger, sich auszutauschen und sich zum Beispiel gewerkschaftlich zu organisieren“, sagt Osborne.
Dieser Horrorvorstellung aus ihrer Sicht wollen Gewerkschaften entgegenwirken. Die Umfrageergebnisse deutet Bsirske deshalb als „klaren Handlungsauftrag“. Verdi fordert von der Bundesregierung unter anderem eine Anti-Stress-Verordnung. Vor rund einem Jahr hatte Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) selbst eine solche Verordnung angeregt. Fortschritte sind dort allerdings derzeit nicht zu erkennen.
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