ZF-Chef im Interview: „Der Blick auf die Autoindustrie ist zu dogmatisch“
In der deutschen Autobranche ist Streit über die Elektromobilität ausgebrochen. Wolf-Henning Scheider, Chef des Autozulieferers ZF, begründet im Tagesspiegel-Interview, warum er den "Volks-Hybrid" für die Lösung hält.
Am 1. Februar 2018 trat Wolf-Henning Scheider (56) als Vorstandsvorsitzender des Autozulieferers ZF Friedrichshafen an. Sein Vorgänger Stefan Sommer hatte das Unternehmen im Streit mit dem Aufsichtsrat und ZF-Eigentümer, der stadteigenen Zeppelin-Stiftung, verlassen. Er ist heute Einkaufs- und Komponenten- Vorstand von Volkswagen. Scheider war zuvor seit 2015 in der Geschäftsführung des Zulieferers Mahle. Von 1989 bis 2010 war er für Bosch tätig. ZF zählt neben Bosch und Continental zu den weltweit größten Autozulieferern, speziell für Antriebs- und Fahrwerktechnik. Das Unternehmen beschäftigt 146 000 Mitarbeiter, die einen Umsatz von gut 36 Milliarden Euro erwirtschaften.
Herr Scheider, der VW-Chef sieht keine Alternative zur Elektromobilität. Die von der Branche vertretene Technologieoffenheit hält er für die „falsche Parole“. Sie auch?
Man darf nicht die Strategie eines einzelnen Unternehmens mit der gesamten Branche gleichsetzen. Ich habe hohen Respekt vor der Strategie, die Volkswagen einschlägt. Sie ist aus Sicht des Unternehmens sicher konsequent und richtig. Wir haben ein gemeinsames Ziel: die CO2-Emissionen reduzieren und die Zukunft der Mobilität gestalten. Am Ende muss aber der Kunde die Produkte kaufen. Und da wird es nicht nur die eine Lösung geben.
Kommt die batteriebetriebene Elektromobilität schneller als gedacht?
Sie ist grundsätzlich der Antrieb der Zukunft. Die deutsche Automobilindustrie investiert Milliarden, um hier eine führende Rolle einzunehmen. Auch wir fertigen reine Elektroantriebe und Hybrid-Getriebesysteme längst in Serie. Aber diese Transformation wird uns sicherlich noch zehn bis 20 Jahre lang intensiv beschäftigen. Es stimmt, die Batterien werden leistungsfähiger und preiswerter, die Ladeinfrastruktur wächst. Aber ein Umstieg auf ein Elektroauto von heute auf morgen ist für viele Verbraucher noch nicht möglich.
Warum nicht?
Denken Sie an eine Familie, die nur ein Auto hat. Ein Elektrofahrzeug hätte nicht die nötige Reichweite für alle Lebenssituationen. Ich bin davon überzeugt, dass sich dieses Thema mit der Zeit lösen lässt. Aber nicht in den nächsten zehn bis 20 Jahren. Genauso ist es beim Strom: Solange mehr als die Hälfte aus fossilen Quellen erzeugt wird, macht es keinen Unterschied, ob man einen Verbrennungs- oder einen Elektromotor fährt.
Sie entwickeln einen „Volks-Hybrid“. Das klingt wie ein neuer Diesel.
Nein. Aber es ist uns wichtig, dass wir jeden Bürger erreichen. E-Autos mit kleineren Batterien sind für die Stadt ideal. Aber bei großen Fahrzeugen, die 500 Kilometer und mehr schaffen sollen, ist der Plug-in-Hybrid – also die extern aufladbare Kombination aus Elektro- und Verbrennungsmotor – heute die überlegene Lösung. Die CO2-Bilanz über die gesamte Lebensdauer ist günstiger.
Volks-Hybrid – das klingt so, als könnten ihn sich alle leisten.
So ist es. Oder besser: so wird es sein. Noch sind Plug-in-Hybride vor allem in der Oberklasse verfügbar. Die Hybridfahrzeuge der Zukunft haben einen kostengünstigeren und auf Effizienz optimierten integrierten Antrieb. Und die Batterie hat nur ein Viertel der Größe im Vergleich zu einem reinen E-Fahrzeug. Das macht die Fahrzeuge mittelfristig preiswerter.
Hybride sind nicht Fisch, nicht Fleisch und sie stoßen immer noch CO2 aus. Sind Sie an der Stelle nicht strategisch unentschlossen?
Wir nennen die nächste Generation unserer Plug-in-Hybride, die wir gerade entwickeln, „EV plus“, Electric Vehicle plus Verbrennungsmotor. Heißt: In der Stadt fährt das Auto immer elektrisch, mit einer Reichweite von 80 bis 100 Kilometern. 90 Prozent aller Fahrten in Deutschland sind im Schnitt kürzer als 40 Kilometer. Man kann also fast immer elektrisch fahren – und bei Bedarf in den Urlaub.
Sind die Hersteller daran interessiert?
Unsere Bücher sind voll. Wir haben Aufträge großer deutscher und ausländischer Volumenhersteller, die bis weit ins nächste Jahrzehnt reichen.
Wann kann man die Autos kaufen?
Ich rechne damit, dass Ende des Jahres Plug-in-Hybrid-Fahrzeuge mit einer echten, elektrischen Reichweite von bis zu 80 Kilometern im Autohaus stehen. In der aktuellen Generation waren die Reichweiten für viele Kunden nicht ausreichend. Das ändert sich nun.
Wie lang muss die technologische Hybrid- Brücke denn tragen, bis sich die reine Elektromobilität durchsetzt? VW will ab 2026 keine neuen Verbrenner mehr entwickeln.
Das ist schwer absehbar, weil es noch große Aufgaben gibt: Der Strommix muss sich ändern, die Infrastruktur muss aufgebaut werden, die Batteriekapazität muss sich vergrößern. Es hängt von den jeweiligen Märkten ab. In Europa ist die CO2-Regulierung strenger, hier wird es schneller gehen. ZF will sich in den 2030er-, 2040er-Jahren auf die CO2-Neutralität vorbereiten und sie 2050 erreichen. In manchen Märkten wird es länger dauern.
Brauchen Sie politische Unterstützung?
Es müssen alle ihren Beitrag leisten. Ohne eine Energiewende keine Verkehrswende. Der politische Blick auf die Autoindustrie ist mir häufig zu dogmatisch. Alle Sektoren müssen an einem Strang ziehen – und dazu zählt auch die Politik.
ZF ist „Systemlieferant“, der bis zu 80 Prozent eines Fahrzeugs liefern kann. Könnten es auch 100 Prozent werden? Mit dem E-Auto-Start-up e.GO haben Sie schon ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet.
Nein, wir haben keine Absicht, Fahrzeughersteller zu werden. Wir stellen elektrifizierte Antriebe her, befassen uns mit dem Fahrwerk samt Bremse und Lenkung, wir entwickeln Sicherheitssysteme und treiben die Automatisierung voran. Die Partnerschaft mit e.GO bietet uns die Freiheit, unsere Systeme für das automatisierte Fahren nach unseren Vorstellungen in einem Fahrzeug zu realisieren und schnell auf den Markt zu bringen. Von unserem gemeinsam entwickelten „e.Go Mover“ sollen in den nächsten zwei bis drei Jahren rund 15 000 Fahrzeuge auf die Straße kommen – ein guter Teil davon auf großen Werksgeländen oder Flughäfen.
Wachsen bei den Batterie- und Zellherstellern aus Asien neue Wettbewerber heran, die inzwischen auch ganze Antriebssysteme liefern können?
Das war in unserer Branche immer schon so. Denken Sie an die 80er-Jahre, als Japan sehr stark geworden ist. Wir erwarten neue Spieler aus Asien. Aber das ist keine ungewöhnliche Situation für uns. Wir konzentrieren uns auf den Antrieb, nicht auf den Energiespeicher.
Die Autohersteller wandeln sich zu Mobilitätsdienstleistern. Verlieren Sie als klassischer Zulieferer dabei?
Nein, das bietet uns im Gegenteil zusätzliche Chancen – etwa, weil wir die Systeme für das automatisierte Fahren liefern, die solche Dienste erst möglich machen. Wir wollen der Technologielieferant werden, der den Serviceunternehmen die Möglichkeit gibt, automatisierte Mobilität anzubieten. Ein erster Kunde für unsere Systeme für das hochautomatisierte Fahren ist der Bus- und Bahnanbieter Transdev.
Geld wird mit Mobilitätsdiensten meist nicht verdient. Steigt Ihr Risiko?
Ja, das ist richtig. Das höhere Risiko gehen wir mit unseren Investitionen ein. Die Sicherheit, ein stabiles Geschäftsmodell zu entwickeln, ist geringer als in unseren klassischen Bereichen. Aber wir können als breit aufgestelltes, weltweit aktives Unternehmen diese Vorleistungen erbringen.
Die Autokonjunktur trübt sich ein. Wie sehr trifft Sie das?
2019 wird ein schwieriges Jahr. Unsere Erwartungen aus dem vergangenen Sommer werden sich nicht erfüllen. Aber wir werden leicht wachsen.
Wird es E-Antriebe von ZF für Tretroller oder Fahrräder geben?
Wir werden mit unserem 2018 gegründeten Joint Venture im Laufe des Jahres einen Antrieb für E-Fahrräder und andere Zweiräder auf dem Markt bringen. Diese sind zudem mit einem ABS-System ausgestattet das absolut vergleichbar zum Auto funktioniert. Damit kann man auch auf nasser Straße bremsen, ohne hinzufallen.
Das Gespräch führte Henrik Mortsiefer