Onlinehandel: Das System Amazon
Regelmäßig gibt es Berichte über miese Arbeitsbedingungen bei Amazon. Während an zwei Standorten in Deutschland immer mal wieder gestreikt wird, ist bei Berlin gerade ein neues Logistikzentrum ans Netz gegangen. Ein Besuch beim größten Onlinehändler der Welt.
„Sie sind hier falsch“, sagt die Frau freundlich. „Sie müssen den Raum leider verlassen.“ Versehentlich sind die zehn Männer dort gelandet, wo gleich die Pressekonferenz stattfinden soll. Sie alle haben einen Brief von der Arbeitsagentur dabei. Dass sie sich um 10 Uhr vorstellen sollen, steht darin. Im neuen Amazon-Logistikzentrum. Ein Kleinbus hat sie die paar Kilometer vom Ortskern Brieselang hier herausgefahren ins Industriegebiet.
"Ein Super-Job", schwärmt ein Mitarbeiter
„Dein 1. Tag startet hier“, begrüßt ein Schild mit Firmenlogo am Eingang Bewerber und Besucher. Den hat Marco Dartsch für Amazon-Verhältnisse lange hinter sich. Eine Woche, um genau zu sein. Mit einer orangefarbenen Warnweste über dem Pulli und einem roten Körbchen in der Hand läuft er durch die endlos erscheinenden Regalreihen. Konzentriert blickt er auf den kleinen Computer in seiner Hand. Vor einem der Fächer bleibt er stehen und nimmt ein originalverpacktes Schnurlostelefon heraus. Der Scanner in seiner Hand piept, das Telefon landet im Korb. Um die zehn Kilometer legt er jeden Tag in den Hallen zurück, sammelt Kundenbestellungen zusammen, die dann in die Packerei wandern: Er ist Picker. Sein Stundenlohn liegt bei 9,55 Euro, sein Chef sagt Marco und du zu ihm. Ein Super-Job, sagt Dartsch. Vorher hat er in einer Eisengießerei gearbeitet.
Rund 1000 Kollegen hat Dartsch, die meisten sind kaum länger im Betrieb als er und ihr Verträge sind zunächst bis Ende des Jahres befristet. Das Logistikzentrum ist erst seit Mitte Oktober am Netz. „Amazon will das kundenorientierteste Unternehmen der Welt sein“, sagt Karsten Müller, Standortleiter in Brieselang und Dartschs Chef. Aus diesem Grund knüpft der US-Onlinehändler sein Logistiknetz immer enger. Brieselang, 50 Kilometer westlich von Berlin, ist bereits der neunte Standort dieser Art in Deutschland. Heute bestellt, so schnell wie möglich geliefert – das versteht Amazon unter Kundenorientierung.
100 000 Päckchen an Spitzentagen
Dabei ist es egal, ob es sich um Babywindeln, Spielkonsolen, Bücher oder eben Schnurlostelefone handelt. „An einem einzigen Tag schlagen wir die gesamte Ware im Lager um“, sagt Müller. An Spitzentagen wie jetzt vor Weihnachten verlassen um die 100 000 Päckchen oder Pakete die Hallen über eine der Ladebrücken von DHL, Hermes oder UPS. Dabei ist Brieselang mit rund 65 000 Quadratmetern Fläche nur etwa halb so groß wie die von Amazon bevorzugte Standardgröße. Doch die Gelegenheit war günstig. Nach der Pleite von Neckermann standen die sechs Hallen des Logistikers Fiege leer.
Die Lage ist für Amazon ideal: in unmittelbarer Nähe zum Berliner Autobahnring mit Anbindung an den künftigen Flughafen BER und in einer Region mit vielen potenziellen Arbeitskräften. Erst im Mai mietete das Unternehmen die 17 Meter hohen Hallen an und baute sie für seine Zwecke um. Die Menschen arbeiten in vier Bereichen. In der Warenannahme werden die Kartons der Lieferanten von den „Receivern“ geleert, dann die Waren von den „Stowern“ gescannt und einsortiert. Die „Picker“ sammeln sie dann aus den unzähligen Regalen für die Kunden wieder zusammen. Die „Packer“ machen sie versandfertig.
Immer wieder Schlagzeilen wegen der Bezahlung
Zum Investitionsvolumen schweigt Amazon. Ansonsten aber ist der Konzern mit Sitz in Seattle, im US-Bundesstaat Washington, um Transparenz bemüht. Seit eine Fernsehreportage zu Beginn des Jahres teils skandalöse Wohn- und Arbeitsbedingungen von Saisonarbeitern zeigte, kämpft das Unternehmen in Deutschland gegen das Ausbeuter-Image. Als erste Konsequenz kündigte es einer Zeitarbeits- und einer Sicherheitsfirma, die für Unterbringung und Bewachung der Arbeitskräfte zuständig waren. „Wir haben gelernt“, beteuert ein Sprecher. „Inzwischen rekrutieren wir Mitarbeiter aus der jeweiligen Region für das saisonale Geschäft selbst.“ Will heißen, man will auf das Ankarren und Unterbringen von Arbeitern nach Möglichkeit ebenso verzichten wie auf Zeitarbeitsfirmen. Vor allem vor Weihnachten braucht das Unternehmen viele zusätzliche Helfer – und alle sollen bei gleicher Arbeit gleich bezahlt werden.
Die Bezahlung ist der zweite Punkt, mit dem Amazon seit einigen Monaten immer wieder in die Schlagzeilen gerät. Das Unternehmen liegt mit einem Einstiegsgehalt von 9,55 Euro in der Stunde nach eigenen Angaben am oberen Ende dessen, was in der Logistikbranche üblich ist. Nur: Ist das Unternehmen ein Logistiker oder ein Händler? Die Gewerkschaft Verdi will einen Tarif erreichen, der sich am Einzel- und Versandhandel orientiert, der Weihnachts- und Urlaubsgeld beinhaltet sowie Nachtzuschläge bereits ab 20 Uhr. In Brieselang liegt der Stundenlohn beispielsweise knapp einen Euro unter dem in Brandenburg gültigen Tarif im Versandhandel. Doch Verhandlungen mit Verdi sind das letzte, worauf sich Amazon einlassen will. „Unsere Ansprechpartner sind unsere Mitarbeiter, nicht die Gewerkschaften“, betet Standortleiter Müller die offizielle Konzernlinie nach. Mit einem Betriebsrat muss er sich nicht auseinandersetzen. Hier gibt es nur ein vom Unternehmen initiiertes Mitarbeiterforum. Man betrachte das als Vorstufe zum Betriebsrat, sagt ein Konzernsprecher. Die Mitarbeiter müssten erst lernen, wie ein Betriebsrat funktioniert, bevor sie einen gründen.
Immer wieder kommt es zu Streiks
Thomas Schneider bringt das in Rage. „Natürlich haben die Mitarbeiter Erfahrung mit Betriebsräten“, sagt der für das Versandzentrum in Leipzig zuständige Verdi-Sekretär. Dort wie in den beiden Zentren im hessischen Bad Hersfeld tritt ein großer Teil der Mitarbeiter seit Monaten immer mal wieder in Streik, um für den Tarifvertrag zu demonstrieren. Der Organisationsgrad von Verdi ist an beiden Standorten mit rund einem Drittel der Arbeitnehmer verhältnismäßig hoch.
"Bei Amazon sollen Menschen wie Roboter funktionieren"
Bundesweit liegt die Tarifbindung im Einzelhandel und Versandhandel bei 45 Prozent, im Osten deutlich darunter. Damit der Tarifvertrag allgemeingültig würde, müsste Verdi mindestens 50 Prozent erreichen. Das sei aber keineswegs der Grund, warum man sich so intensiv mit dem US-Konzern beschäftige, beteuert Schneider. „Bei Amazon sollen die Menschen wie Roboter funktionieren und nach Möglichkeit alles unterlassen, was nicht dem Wohl des Unternehmens dient“, sagt Schneider. Zum Beispiel einen Betriebsrat gründen und sich gewerkschaftlich organisieren.
Dem würde Thorsten Bergmann widersprechen. Er gehört zu den 170 Menschen, die seit dem ersten Tag in Brieselang dabei sind. Als Vorarbeiter in der Packerei ist er einer der wenigen mit einem höheren Gehalt. Zuvor hat er zwei Jahre nebenan gearbeitet – beim Mode-Versender Zalando, der nur einen Steinwurf entfernt sein Lager hat. „Amazon zahlt besser, es gibt mehr Urlaub, die Stimmung unter den Kollegen ist gut“, sagt der 46-jährige gelernte Nachrichtentechniker. In seinem Beruf findet er hier in der Gegend schon lange keinen Job mehr. Und auch zu Amazon fährt er aus Rathenow jeden Tag 70 Kilometer. Aber das ist in Ordnung, sagt er.
Simon Frost