So wird 2015: Das Münchhausen-Experiment
Ein weicher Euro und billiges Rohöl – das hilft der Konjunktur. Doch die Politik hat da noch eine Idee.
Der Mann hatte einfach unglaubliche Fähigkeiten. Auf Kanonenkugeln reiten, einen achtbeinigen Hasen jagen, eine Katze häuten, ohne ihr Fell zu verletzen. Die größte Heldentat gelang Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen, dem sagenhaften Lügenbaron, aber hoch zu Ross: Als er einst während eines Feldzugs einen Sumpf durchquerte, versanken er und sein Pferd plötzlich an einer besonders matschigen Stelle. Beinahe wären sie untergegangen. Doch allein mit der Kraft seines Arms gelang es dem Adligen, sich aus dem Morast zu befreien – er zog sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf, samt des Tieres zwischen seinen Knien.
Heute, 200 Jahre nach Münchhausen, wird diese zweifelhafte Masche zur Maxime der Wirtschaftspolitik in Deutschland und Europa. Die Regierung vertraut auf die Stärke ihres Landes, darauf, dass schon alles gut werden wird. Schließlich erzählen ihre Wirtschaftsberater seit Jahren, Deutschland sei so etwas wie eine Insel der Seligen im siechen Europa, mit properem Wachstum und einem boomenden Jobmarkt. Da reiche es, auf die eigene Kraft zu setzen – der Rest läuft wie von selbst.
"Party oder Kater"
Die Realität sieht anders aus. „Die Risiken für die deutsche Wirtschaft sind extrem groß“, warnt Marcel Fratzscher, Präsident beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Womöglich werde der aktuelle Zustand – schwaches Wachstum zusammen mit extrem niedriger Inflation – noch Jahre anhalten. „Die Wahrscheinlichkeit, dass wir einen Schock haben, der die deutsche Wirtschaft in die Rezession treibt, ist enorm.“ Banker drücken es anders aus. „Party oder Kater, das ist die Frage“, sagt Carsten Brzeski, Chefökonom der ING Diba.
Noch im Frühjahr waren viele Wirtschaftsforscher voller Hoffnung. Wachstumsraten von zwei Prozent und mehr sagten sie voraus, für 2014 wie für 2015. Doch dann kamen die weltpolitischen Spannungen auf – in der Ukraine, im Nahen Osten. Die Sanktionen gegen Moskau trafen den Handel mit Russland. Überdies ist die Krise in mehreren Ländern Europas zäher als gedacht. Frankreich und Italien, wichtige Abnehmer deutscher Produkte, kommen nicht vom Fleck. Im Sommer schrammte die Bundesrepublik daher nur knapp an einer Rezession vorbei. Auf anderthalb Prozent schätzen die Forscher nun das Plus in diesem Jahr.
Billiges Öl sorgt für Wachstum
2015 dürfte es nach jetzigem Stand ähnlich werden, vor allem dank unverhoffter Unterstützung: Der Rohölpreis ist seit dem Sommer um rund die Hälfte abgerutscht. „Das wirkt wie ein kleines Konjunkturprogramm“, frohlockte Bundesbank-Präsident Jens Weidmann jüngst in kleiner Runde. Nicht nur die Verbraucher haben damit mehr Geld in der Tasche, auch die Industrie kann mit niedrigeren Kosten arbeiten. Das Münchener Ifo-Institut schätzt, dass allein das billige Öl im kommenden Jahr hierzulande für einen Wachstumsschub von einem viertel Prozentpunkt sorgen wird.
Hinzu kommt der niedrige Euro-Wechselkurs zum Dollar. Seit Monaten rauscht die Währung Richtung Keller und steuert auf den tiefsten Stand seit vier Jahren zu. Waren aus dem Exportland Deutschland verbilligen sich damit auf den Weltmärkten spürbar. Die Stimmungsindikatoren, die die Zuversicht von Managern, Börsianern und Verbrauchern messen, machten deshalb zuletzt einen Sprung nach oben. Vor allem die Nachfrage aus den Vereinigten Staaten könnte anziehen, die sich aus einer langen Konjunkturflaute gekämpft und wieder ordentliche Wachstumsraten vorzuweisen haben.
Mögliche Trendwende
Fraglich ist allerdings, ob die Tiefstände bei Öl und Euro verlässliche Größen von Dauer sind. Der Trend kann sich jederzeit wenden, Prognostiker haben das schon oft leidvoll erfahren. Auch ist derzeit völlig unvorhersehbar, welchen Weg Russland einschlagen wird. Eine Rezession nach den Rubel-Turbulenzen der vergangenen Woche käme nicht überraschend. Pessimisten wie der Deutsche Industrie- und Handelskammertag trauen der Bundesrepublik denn auch allenfalls ein Wachstum von 0,8 Prozent zu.
Unklar ist auch, was der neue, gesetzliche Mindestlohn ab Januar mit dem Arbeitsmarkt machen wird. Das DIW etwa veranschlagt den Beschäftigungsverlust auf bis zu 100 000 Stellen. Das gewerkschaftsnahe Institut IMK rechnet nicht mit negativen Effekten, sondern setzt darauf, dass die Löhne dank des Mindestlohns noch ein bisschen stärker steigen werden als ohnehin absehbar.
Finanzwirtschaft sucht neue Anlageziele
Wegen der allgemeinen Unsicherheit ist das Münchhausen-Prinzip dieser Tage wieder en vogue in der Berliner Politik: Einfach auf die eigenen Kräfte setzen, auch wenn nicht ganz sicher ist, ob das tatsächlich funktioniert. Mehr Investitionen müssen her, das ist Konsens quer durch alle Parteien. Zehn Milliarden Euro zusätzlich will Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) lockermachen, etwa für die vielerorts marode Infrastruktur. Wie die Privatwirtschaft weiteres Geld beisteuern kann, daran arbeitet gerade eine Expertengruppe des Wirtschaftsministeriums unter der Leitung von DIW-Chef Fratzscher. Schon im Frühjahr will sie Ergebnisse vorlegen. Vor allem die Finanzwirtschaft sucht angesichts der Niedrigzinsen neue Anlageziele. Praktischerweise stellt die Branche gleich vier der 13 Gruppenglieder.
Auch die Europäische Union findet die Idee mit den Investitionen prima – und will dafür bis zu 315 Milliarden Euro losschlagen, über einem Hebel-Mechanismus, der auch privates Geld mobilisiert. Fraglich ist allerdings, wie rasch ein solches Programm in Schwung kommen kann. Meist dauert es Monate, und die Wirkung setzt erst ein, wenn die Krise schon längst Geschichte ist.
Geld, das aus dem Nichts kommt
Eiliger dürfte es die Europäische Zentralbank haben. Nachdem Präsident Mario Draghi den Verfall der Preise in der Euro-Zone mit seinen bisherigen Milliarden-Spritzen nicht aufhalten konnte, wird er Anfang 2015 wohl erstmals auf direktem Weg Staatsanleihen kaufen – mit Geld, das aus dem Nichts kommt. Womöglich hilft das, den Bankensektor in einigen Ländern zu stabilisieren.
Ganz sicher wird diese Politik aber den Euro-Kurs weiter drücken. Dass das eine riskante Taktik ist, dass sie den Reformdruck für viele Regierungen mildert, das interessiert Draghi nicht. Hauptsache, die Menschen glauben, dass es klappt – an dieser Einstellung hätte der alte Münchhausen seine helle Freude.
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