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 Li Jiaqi ist einer der erfolgreichsten Influencer des Landes. Er testet unter anderem Lippenstifte.
© VCG via Getty Images

Vom Lippenstift bis zur Bratpfanne: Chinas Internetstars verdienen Millionen mit Livewerbung im Netz

Li Jiaqi ist einer der erfolgreichsten Key Opinion Leader: So nennt man in China Influencer, die Produkte vor der Kamera anpreisen und Millionen verdienen.

Li Jiaqi hat eine Vorliebe für knallrote Lippenstifte, dürften seine Zuschauer meinen. In seinen Videos probiert der junge Chinese verschiedene Farbvariationen aus, formt einen Kussmund – und hält ihn in die Kamera. Aus purer Leidenschaft macht Li das allerdings nicht. Er will die Lippenstifte verkaufen.

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Li ist einer der bekanntesten Key Opinion Leader, kurz KOL. So heißen in China die Internetstars, die in Deutschland als Influencer bezeichnet werden. Im vergangenen Monat wurde sein Name auf Chinas größter Suchmaschine Baidu häufiger aufgerufen, als etwa der des berühmten chinesischen Sängers und Schauspielers Kris Wu, der Millionen Fans in sämtlichen sozialen Netzwerken zählen kann. Dabei ist nichts an der Welt von Li glamourös. Der 27-Jährige sitzt in einem einfach ausgestatteten, etwas chaotisch wirkenden Zimmer und filmt sich täglich mehrere Stunden live dabei, wie er Gesichtsmasken auflegt, Pfannen untersucht, Kissen testet oder andere Produkte ausprobiert.

Schon 2018 ist China der größte Markt für sogenanntes Livestreaming gewesen. Laut der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte haben mehr als 450 Millionen Zuschauer die verschiedenen Dienste genutzt – Tendenz steigend. Dabei erinnert alles auf den ersten Blick ans frühere Teleshopping. Ob einen Mopp oder einen modischen Ring – alles Dinge, die man nicht notwendigerweise braucht, aber dennoch kauft, weil sie als unschlagbar günstig für einen begrenzten Zeitraum oder als limitierte Version angepriesen werden.

Das Verkaufsfernsehen hat China übersprungen

China kannte diese Art von Verkaufsfernsehen nicht. Durch den Boom im E- Commerce, der seit fünf Jahren anhält, wurde diese Phase einfach übersprungen. Stattdessen kaufen Chinesen direkt auf den Plattformen der sozialen Netzwerke, zahlen über die mobilen Dienste von WeChat oder Alibaba. Und das alles mit einer App, in weniger als drei Schritten: auswählen, in den Warenkorb legen, bezahlen. Dem Beratungs- und Technologieunternehmen Accenture nach kaufen 70 Prozent der nach 1995 geborenen Chinesen nach diesem Prinzip ein. Im Vergleich dazu liegt der Anteil der jungen Nutzer weltweit bei 44 Prozent.

Bloße Fotos, wie sie auf den Verkaufsseiten der großen Anbieter zu sehen sind, genügen den meisten Chinesen nicht. Sie wollen die Produkte vorgeführt bekommen. In diese Lücke sind die KOLs gesprungen. Sie testen und bewerten vor laufender Kamera – und genießen obendrein noch das Vertrauen ihrer Fans. Dieses Vertrauen müssen sich die Stars im Netz allerdings erst erarbeiten. KOL wird niemand, der gelegentlich ein paar Produkte vorführt.

Li Jiaqi zum Beispiel beschäftigt nach eigenen Angaben 100 Angestellte. Diese prüfen die Qualität der Produkte vorab, die er dann vor der Kamera ausprobiert oder zu denen er Fragen seiner Zuschauer beantwortet. Dadurch werden Produkte vorab aussortiert, die seinen Ansprüchen nicht genügen. Noch sind es bei den meisten KOLs selbst gesetzte Qualitätsstandards. Allerdings: Alibaba, der größte E-Commerce-Anbieter des Landes, hat in diesem Jahr einen eigenen KOL-Inkubator vorgestellt. Dort sollen angehende Key Opinion Leader – ähnlich wie auf einer Universität – eine Ausbildung für die optimale Vermarktungsstrategie erhalten.

Auch Händler werben im Netz live für ihre Produkte

Im Vorfeld des diesjährigen Singles’ Days – der größten Rabattschlacht des Landes – bewarben fast die Hälfte der Händler auf Alibabas E-Commerce-Plattform Tmall ihre Produkte mit Taobao Live, dem eigenen Live-Streaming-Kanal des Unternehmens. Im Jahr 2018 erzielte Taobao Live einen Umsatz von mehr als 100 Milliarden Yuan, also umgerechnet rund 13 Milliarden Euro. Das entspricht einer Steigerung von 400 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Mehr als 36 Millionen Menschen sahen zu, als Li Jiaqi am Singles’ Day verschiedene Waren über seinen Livestream verkaufte. Zhong Tianhua, Vize-Präsident von Alibaba, schätzte, dass allein Lis Shows im Monat vor dem Singles’ Day für über eine Milliarde Yuan (130 Millionen Euro) des Umsatzes auf Alibabas Plattformen verantwortlich waren.

Viele Hersteller vermarkten und verkaufen ihre Produkte deshalb inzwischen direkt über die KOLs. Becky Li etwa, eine ehemalige Journalistin, die mit Modeblogs erfolgreich wurde, verkaufte in nur fünf Minuten 100 Mini-Cooper über ihren WeChat-Kanal. Das limitierte Modell mit dem türkisfarbenen Farbton „Caribbean Aqua“ und einem Preis von 285.000 Yuan (37.000 Euro) wurde den Anhängern ihrer Plattform noch vor allen anderen angeboten.

Doch der schnelle Onlineverkauf schafft auch Probleme. So ist rechtlich umstritten, inwieweit die Videoverkäufer für ihre Dienste haftbar gemacht werden können. Noch ist gesetzlich nämlich nicht festgelegt, ob die KOLs nur Markenbotschafter sind oder als offizielle Händler auftreten. Außerdem fehlen oft klare Regeln zur Rückgabe und Rückerstattung, denn nicht immer halten die Produkte, was die KOLs in ihren Videos versprechen. Li Jiaqi machte die peinliche Erfahrung einmal sogar vor laufender Kamera. Er pries eine Antihaft-Pfanne an, doch das Spiegelei blieb an der Pfanne kleben. Viele seiner Fans sind seit diesem „Pfannen-Gate“ etwas vorsichtiger geworden und schlagen nicht gleich zu, wenn Li wieder „kaufen, kaufen, kaufen“ ruft.

Ihm wird das egal sein. Laut Medienberichten kassiert er etwa 100.000 Yuan (umgerechnet rund 12.800 Euro), um einen Lippenstift auf Taobao Live zu bewerben. Für andere Kosmetikprodukte bekommt er 60.000 Yuan pro Performance. So addiert sich ein Stundenlohn, von dem selbst die Chefs einiger Konzerne nur träumen können.

Ning Wang

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