Preisschub bei Arznei alarmiert Krankenkassen: Bis zu 750 000 Euro pro Patient
Extrem teure Medikamente machen den Krankenkassen immer stärker zu schaffen. Dabei profitieren von ihnen nur wenige Patienten.
Die gesetzlichen Krankenkassen müssen einen immer größeren Teil ihres Arzneimittel-Etats für besonders teure Medikamente ausgeben. Diese Mittel seien vor allem dafür verantwortlich, dass die Arzneiausgaben der gesetzlichen Versicherer im vergangenen Jahr um 1,4 Milliarden gestiegen seien, betonten Experten am Donnerstag bei der Vorstellung des neuen AOK-Arzneimittelreports in Berlin.
AOK-Chef sieht die Versorgung gefährdet
Es gebe eine immer stärkere Verschiebung der Arzneiausgaben „hin zu Hochpreistherapien für kleine Patientengruppen“, sagte der Herausgeber der Studie, Ulrich Schwabe. Der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, nannte diese Entwicklung alarmierend. Der „Hochpreistrend“ gefährde zunehmend die Versorgung, warnte er. Man müsse sich fragen, wie lange die gesetzlichen Versicherer noch in Lage seien, „derartige Preise zu tragen“.
Als Extrembeispiel nannte Litsch ein neues Mittel namens „Brineura“ zur Behandlung einer Erbkrankheit bei Kindern. Die Jahrestherapiekosten lägen bei rund 750.000 Euro. Für „Spinraza“, ein Medikament zur Behandlung einer seltenen neuromuskulären Erkrankung, seien im ersten Jahr pro Patient 622.000 Euro aufzubringen. Und zwei genetische Krebsmedikamente, sogenannten CAR-T-Zelltherapien, die demnächst auch in Europa zu haben seien, schlügen in den USA mit 370 000 bis 480 000 Dollar zu Buche.
Im ersten Jahr dürfen die Hersteller ihre Preise frei festlegen
Dem Report zufolge stiegen die Arzneiausgaben der gesetzlichen Kassen im vergangenen Jahr trotz aller Sparmanöver erneut um 3,7 Prozent. Hauptursache dieses Anstiegs seien patentgeschützte Arzneimittel, sagte Schwabe. Diese neuen Medikamente, deren Preis der Hersteller im ersten Jahr frei festlegen darf, schlugen 2017 allein mit 18,5 Milliarden Euro zu Buche – bei Gesamtausgaben von 39,9 Milliarden Euro (inklusive Versichertenzuzahlung).
Damit habe sich der Umsatzanteil der patentgeschützten Medikamente in zwei Jahrzehnten von 33 auf 45 Prozent erhöht, so Schwabe. Allein für die 20 führenden Patentarzneimittel hätten die Verordnungskosten bei sieben Millarden Euro gelegen. Dies erkläre „den größten Teil des Kostenanstiegs im Gesamtmarkt“.
34 Prozent der Ausgaben für ein Prozent aller Verordnungen
Die teuren patentgeschützten Mittel werden vor allem kleinen Patientengruppen verschrieben, vorzugsweise für Krebs- und Viruserkrankungen sowie für schwere Störungen des körpereigenen Abwehrsystems. Dem Report zufolge machten die Tagesdosen für diese Krankheiten gerade mal ein Prozent aller Verordnungen aus. Gleichzeitig entfielen darauf aber 34 Prozent der gesamten Arzneiausgaben. Im Vergleich dazu: Für Herz- und Kreislauferkrankungen betrug der Anteil der verordneten Medikamente im vergangenen Jahr 48,6 Prozent. Der Kostenanteil dagegen lag bei nur 15,8 Prozent.
So könne das nicht weitergehen, sagte AOK-Chef Litsch. Bei den Preisen für neue Medikamente, die erst nach einem Jahr mit Blick auf ihren Zusatznutzen gedrückt werden können, und insbesondere für Mittel zur Behandlung besonders seltener Krankheiten, die längeren Patentschutz genießen (Orphan-Drugs), werde „deutlich überzogen“.
Experten fordern rückwirkende Preise
Der Funktionär forderte deshalb rückwirkende Preise. Für teure Mittel, deren Zusatznutzen nach dem ersten Jahr der Markteinführung nicht belegbar ist, müsste dann Geld zurückerstattet werden. „Das wäre ein Signal an die Pharmafirmen, dass es sich nicht lohnt, mit überhöhten Preisen in den Markt zu gehen", sagte Litsch.
Rückwirkende Preise hält auch Arzneiexperte Schwabe für sinnvoll. Dadurch hätten sich allein im vergangenen Jahr 353 Millionen Euro einsparen lassen, rechnete er vor. Wenn man nicht nur neue, sondern alle auf dem Markt befindlichen Medikamente einer Nutzenbewertung unterzöge, sei nochmal eine Ersparnis von 1,5 Milliarden Euro drin. Zudem müsse künftig auch der Nutzen von Orphan-Arznei regulär bewertet werden.
Die Praxis, jedes neu zugelassene Medikament zwölf Monate lang zu einem frei festgelegten Herstellerpreis zu erstatten, sei „einzigartig in Europa“, kritisierte Litsch. Die Beitragszahler seien „nicht dazu da, Pharmafirmen ihre Traummargen zu finanzieren“. Man führe diese Diskussion schließlich auch vor dem Hintergrund, dass die Pharmaindustrie „extrem gut“ verdiene. Laut einer Analyse des Wirtschaftsprüfungsunternehmens Ernst&Young habe ihre sogenannte EBIT-Marge 2017 bei 26,5 Prozent gelegen. Die Autobranche komme grade mal auf sieben Prozent.
In den USA half politischer Druck
In den USA hat Druck auf die Pharmaindustrie zum Verzicht auf Preiserhöhungen und teilweise zu Preissenkungen geführt. Nach heftigen Twitter-Attacken von US-Präsident Donald Trump verpflichtete sich Merck & Co., seine Arzneipreise nicht stärker anzuheben als die Inflationsrate. Beim Hepatitismittel Zepatier will der Konzern sogar um 60 Prozent heruntergehen. Zuvor hatten bereits Novartis und Pfizer den Verzicht auf Anhebungen angekündigt. Branchenführer Pfizer hatte zur Jahresmitte rund 100 Produkte teilweise deutlich teurer verkaufen wollen.
"Die Pharmaindustrie sollte nicht den Ast absägen, auf dem sie sitzt", mahnte der AOK-Chef. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) wies die Kritik zurück. Die Ausgaben für Arzneimittel seien "kein Risikofaktor für die Finanzierung der GKV", behauptete der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Norbert Gerbsch. Er wandte sich gegen "Preisdumping" und verwies darauf, dass die Rücklagen von gesetzlichen Versicherern und Gesundheitsfonds im ersten Halbjahr auf fast 30 Milliarden Euro gestiegen seien.
Die Linken machten die Bundesregierung für die Entwicklung verantwortlich. "Immer noch dürfen die Arzneimittelhersteller im ersten Jahr die Preise für neue Medikamente beliebig hoch ansetzen", sagte Fraktionsexpertin Sylvia Gabelmann. Wenn Gesundheitsminister Spahn hier nicht schnell handle, bleibe die finanzielle Bedrohung und Überforderung der Krankenkassen bestehen und werde sich sogar noch verstärken.
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