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Michael Ziesemer (63) ist seit einem Jahr Präsident des Verbandes der Elektroindustrie (ZVEI). Der Diplom-Ingenieur und Nachrichtentechniker arbeitet seit über 30 Jahren für den Messgerätespezialisten Endress Hauser, derzeit als stellvertretender Vorstandschef.
© Mike Wolff

ZVEI-Präsident Michael Ziesemer: „Beim Internet der Dinge sind wir vorn“

Der Präsident des ZVEI, Michael Ziesemer, spricht im Tagesspiegel-Interview über die Chancen der Digitalisierung, Berliner Start-ups und die Rückkehr der Euro-Krise.

Herr Ziesemer, wie fühlt es sich an, einem Roboter die Hand zu schütteln?

Ich persönlich hatte leider noch nicht das Vergnügen. Aber es kommt wohl grundsätzlich darauf an, um was für einen Roboter es sich handelt.

In der Industrie arbeiten Mensch und Roboter immer enger zusammen – die Zäune in den Werkhallen fallen.

In der Tat beschäftigt uns in der Elektroindustrie in Deutschland – aber auch in Europa und weltweit – dieses Thema gerade sehr: die Digitalisierung und umfassende Vernetzung der Produktion. Und in der Tat darf man sich die Werkhallen nicht als menschenleere Fabrik vorstellen. Es ist ein intelligentes Zusammenwirken von Menschen und Maschinen.

Ist das Industrie 4.0?

Nein, denn unter Industrie 4.0 verstehen wir mehr als Automatisierung von Fabriken – diesen Prozess gibt es schon seit Jahrzehnten. Es sind vor allem zwei Aspekte, die bei Industrie 4.0 neu sind. Erstens erleben wir Vernetzung über Firmengrenzen hinweg. Es ist nicht mehr nur die eine Fabrik, sondern es gehören Lieferanten, Kunden, Logistik dazu. Damit gestalten wir Wertschöpfungsstrukturen ganz neu. Zweitens entstehen neue Geschäftsmodelle gestützt auf Daten, die aus den digitalen Systemen stammen. Nehmen Sie ein modernes Auto. Da entstehen pro Minute drei bis vier Gigabyte Daten – vom Navigationssystem bis zur Motorsteuerung. Mit diesen Daten aus einer Gruppe von Autos können Sie etwa einen perfekten Wetterbericht erstellen: Wie warm ist es, sind die Scheibenwischer aktiv, Sie wissen dank der Sicherheitssysteme, ob die Fahrbahn vereist ist.

Es hat den Anschein, dass Industrie und IT in den USA wesentlich schneller verstanden haben, dass sie zusammenwachsen.

Da müssen wir unterscheiden. Wenn es darum geht, aus Daten Geschäftsmodelle zu entwickeln, sind die US-Unternehmen sehr gut. Aber schon im Begriff Internet der Dinge, zu dem ja auch Industrie 4.0 gehört, steckt es drin: Es geht nicht nur ums Internet, sondern auch um die Dinge. Und bei den Dingen sind wir weltmarktführend. In jedem Getriebe, in jeder Steuerung, in jeder Drehmaschine sind heute Sensoren und Software verbaut.

Dennoch fürchten Industrie und Politik hierzulande, dass die Industriestandards von morgen aus den USA kommen. Konsortien wie das Industrial Internet Consortium schaffen Fakten, anders als die deutsche Plattform Industrie 4.0.

Das sehe ich anders. Das amerikanische IIC hat bisher nicht eine einzige Norm entwickelt. Zwar hat auch die Plattform 4.0 keine Norm entwickelt, allerdings ein Referenzarchitekturmodell: Es beschreibt, wie zwei Maschinen miteinander kommunizieren können. Das ist ein Riesenschritt. Die Normung kann nicht das Ziel einer solchen Plattform sein. Das ist auch nicht die Aufgabe des Staates, der an der Plattform beteiligt ist. Die Lösungen für Industrie 4.0 müssen Unternehmen entwickeln – und zwar im Wettbewerb. Anders hat sich noch nie eine Technologie durchgesetzt. Davon abgesehen: Die Implementation von Industrie 4.0 scheitert nicht an fehlenden Normen – sondern vielmehr am fehlenden Tun.

Die Angst des Mittelstands vor den Start-ups

Michael Ziesemer (63) ist seit einem Jahr Präsident des Verbandes der Elektroindustrie (ZVEI). Der Diplom-Ingenieur und Nachrichtentechniker arbeitet seit über 30 Jahren für den Messgerätespezialisten Endress Hauser, derzeit als stellvertretender Vorstandschef.
Michael Ziesemer (63) ist seit einem Jahr Präsident des Verbandes der Elektroindustrie (ZVEI). Der Diplom-Ingenieur und Nachrichtentechniker arbeitet seit über 30 Jahren für den Messgerätespezialisten Endress Hauser, derzeit als stellvertretender Vorstandschef.
© Mike Wolff

Wie klappt denn die Zusammenarbeit von klassischem Mittelstand und Start-ups?

Es begegnen sich Kulturen, die sehr unterschiedlich sind, darin liegt ein großes Potenzial. Wir müssen Plattformen schaffen, auf denen Start-ups mit etablierten Firmen zusammenkommen können. So etwas halte ich für sehr fruchtbar.

Wie bereit sind die Mittelständler für diese kulturelle Begegnung?

Das Bild ist derzeit sehr differenziert. Ich sehe Pioniere, die sich sehr stark öffnen. Größere Mittelständler mit einem Umsatz von 500 Millionen bis zwei Milliarden Euro gehen diesen Weg bereits.

Das dürfte nicht reichen.

Nein, natürlich nicht. Wir müssen diesen Dialog intensivieren. Gerade in Berlin ist eine breite Start-up-Szene entstanden – auf solche Strukturen sind die etablierten Unternehmen angewiesen.

Umfragen legen nahe, dass der Mittelstand nichts mit Digitalisierung anfangen kann und sich um die Datensicherheit sorgt. Wie zerstreut man solche Ängste?

Das geht nur über Information. Man muss den Unternehmen immer wieder klarmachen: Hier werden Marktanteile der Zukunft vergeben. Und darauf hinweisen, dass dieser Prozess nicht aufzuhalten ist. Wer sich dem nicht stellt, bekommt Probleme. Ich rate den Unternehmen: Wartet nicht ab, wartet nicht auf Normen, redet mit euren Kunden und anderen Firmen – und dann springt rein! Auf der nächsten Hannover-Messe wünsche ich mir 100 Industrie-4.0-Anwendungen. Und ich glaube, dass wir das schaffen.

Derzeit diskutieren Verbände und Gründer eine Idee von Tagesspiegel-Herausgeber Turner: 100 neue IT-Professuren in Berlin sollen Nachfrage schaffen und dem Fachkräftemangel gerade im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich (MINT) begegnen.

Das Thema Fachkräftemangel ist sehr relevant. Ohne Nachwuchs keine Innovation – und Digitalisierung ist Innovation. Ich weiß nicht, ob 100 die richtige Zahl ist. Aber wir brauchen mehr Ausbildungskapazitäten im MINT-Bereich – damit meine ich auch ausdrücklich die Ausbildungsberufe. Und wir brauchen Weiterbildung: Denn in der digitalisierten Fabrik sind die Anforderungen an die Industriearbeiter andere als heute. Und wir brauchen Mitarbeiter aus dem Ausland. Wir müssen Deutschland als Einwanderungsland verstehen.

Russland ist ein doppeltes Problem

Michael Ziesemer (63) ist seit einem Jahr Präsident des Verbandes der Elektroindustrie (ZVEI). Der Diplom-Ingenieur und Nachrichtentechniker arbeitet seit über 30 Jahren für den Messgerätespezialisten Endress Hauser, derzeit als stellvertretender Vorstandschef.
Michael Ziesemer (63) ist seit einem Jahr Präsident des Verbandes der Elektroindustrie (ZVEI). Der Diplom-Ingenieur und Nachrichtentechniker arbeitet seit über 30 Jahren für den Messgerätespezialisten Endress Hauser, derzeit als stellvertretender Vorstandschef.
© Mike Wolff

Sie erwarten im laufenden Jahr ein Wachstum Ihrer Branche um 1,5 Prozent. Nach industrieller Revolution hört sich das noch nicht an.

Ich habe es ja vorhin schon angedeutet. Viele Geschäftsmodelle, die sich mit der Digitalisierung verbinden, sind datenzentriert. Da werden also nicht neue Komponenten oder Systeme verkauft, sondern eher Dienstleistungen. Die Wartung von Aufzügen, von Abfüllmaschinen in der Getränkeindustrie – hier finden datenorientierte Unternehmen aus der Elektroindustrie neue Tätigkeitsfelder, aber sie machen nur einen Teil der gesamten Branche aus. Das gilt übrigens nicht nur für die Elektrotechnik.

Welchen Anteil am Wachstum hat das Russland-Geschäft?

Russland ist ein wichtiger Exportmarkt für uns, ist aber von Position neun 2012 auf Position 14 zurückgefallen. Allein im abgelaufenen Jahr ist der Anteil um ein gutes Fünftel gesunken. Jetzt liegt er bei 2,6 Prozent gemessen an allen Exporten. Dabei ist der Kapitalabfluss aus Russland für uns ein größeres Problem als die Sanktionen der EU oder der USA. Es wird einfach nicht mehr investiert, weil kein Geld mehr da ist.

Inwieweit tangieren die Spekulationen über Griechenland und das Auf und Ab des Euro zum Dollar die Geschäfte einer so exportorientierten Branche?

Wir haben derzeit zwei Konjunkturprogramme laufen: der niedrige Ölpreis und der schwache Euro. Die Griechenland- Krise scheint sich hingegen wieder zu verschärfen, die Wirtschaft schrumpft wieder. Und auch das mögliche britische Referendum und dessen Ergebnis könnte uns neue Turbulenzen bescheren. Also, Vorsicht ist geboten.

Was würde die Rückkehr zu nationalen Währungen im Euro-Raum für Ihre Branche bedeuten?

Das wäre ein Riesenproblem. Der Markt wird bestimmt von großen Volkswirtschaften: USA, China. Indien ist dabei, eine zu werden. In dem Kontext könnten einzelne europäische Länder mit nationalen Währungen doch gar nicht mithalten. Der europäische Binnenmarkt und die gemeinsame Währung sind für Deutschland enorm wichtig. Die Wirtschaft steht voll und ganz hinter dem Euro.

Der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie mit Sitz in Frankfurt am Main vertritt nach eigenen Angaben derzeit rund 1600 Mitglieder. Der Verband ist mittelständisch geprägt, die Unternehmen sind ähnlich wie im Maschinenbau überdurchschnittlich exportorientiert. Deutschlandweit arbeiten rund 850 000 Menschen in der Branche. Der Jahresumsatz lag zuletzt bei 175 Milliarden Euro. Das Gespräch führten Simon Frost und Kevin P. Hoffmann.

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