Chronik der Krise: Als Griechenland vor den "Toren zur Hölle" stand
Ein Bericht der Athener Zentralbank schildert die Details aus den schlimmsten Krisenjahren. Über Nacht wurden Milliarden in kleinen Euro-Scheinen nach Athen geflogen.
Am 10. Juni 2010 startete eine Hercules-Transportmaschine der griechischen Luftwaffen vom Stützpunkt Eleusis bei Athen. Ihr Ziel war ein Militärflugplatz in der Nähe von Rom. Dort wartete bereits eine wertvolle Ladung. Nicht einmal die Piloten ahnten, was sie an Bord hatten, als sie den Rückflug über die Adria nach Eleusis antraten. Es waren Hilfsgüter der besonderen Art. Das Flugzeug transportierte Fünfzig- und Hunderteuroscheine, säuberlich gebündelt und in Folie eingeschweißt. Gesamtwert: 1,5 Milliarden Euro. Das Geld kam von der italienischen Zentralbank und war für die Notenbank in Athen bestimmt. Sie hoffte mit dem Geld den drohenden Zusammenbruch des griechischen Bankensystems abzuwenden.
In einem Buch mit dem Titel „Die Chronik der Großen Krise 2008–2013“ hat die Bank von Griechenland jetzt die dramatischen Ereignisse der Krisenjahre dokumentiert. Der scheidende Notenbankchef Giorgos Provopoulos legte die Schrift in dieser Woche vor. Er habe in jener Zeit oft nicht gewusst, mit welcher Währung er schlafen geht und mit welcher er am nächsten Morgen aufwachen werde, erinnert sich Provopoulos. Der Verlust des Euro sei eine reale Gefahr gewesen. Damit hätten sich für Griechenland „die Tore zur Hölle geöffnet“, meint Zentralbanker Provopoulos.
Verunsicherte Bankkunden hoben damals immer mehr Geld von ihren Konten ab. Sie bunkerten die Scheine oder schafften sie ins Ausland. Um die Liquidität des Bankensystems zu sichern, organisierte die Bank von Griechenland in Zusammenarbeit mit der Europäischen Zentralbank (EZB) einen weiteren Hilfsflug: Am 16. Juni 2011 holte ein Hercules-Transporter der Hellenic Air Force aus Wien 1,92 Milliarden Euro ab.
Die Notenbank nutzte eine ausgeklügelte Logistik
Im Frühsommer 2012 erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Die Parlamentswahl vom Mai erbrachte keine klare Mehrheit, alle Versuche einer Regierungsbildung scheiterten. Für den 17. Juni wurden neuerliche Wahlen angesetzt. Das Land befand sich nur noch einen kleinen Schritt vor dem Bankrott. Die Menschen standen Schlange vor den Geldautomaten. Allein am Freitag vor der Parlamentswahl hoben sie rund 3,5 Milliarden Euro ab. „Unser schlimmster Alptraum war damals, dass ein Geldautomat irgendwo im Land leer sein könnte oder einer Bankfiliale das Bargeld ausgeht“, erinnert sich Notenbankchef Provopoulos. „Eine solche Nachricht hätte einen Sturm auf die Banken ausgelöst.“
Mit einer ausgeklügelten Logistik schaffte es die Notenbank, die Bargeldversorgung zu sichern. Während früher an normalen Tagen höchstens zwanzig Geldtransporter die Notenbank verließen, um die Geschäftsbanken mit Scheinen zu versorgen, mussten am 14. und 15. Juni 2012 jeweils mehr als 70 Fahrzeuge eingesetzt werden, um die Banken flüssig zu halten. Nicht ganz ungefährlich, aber es ging gut.
Mit der Wahl vom 17. Juni ging der Spuk dann vorbei. Antonis Samaras gewann den Urnengang mit seiner konservativen Nea Dimokratia und bildete binnen weniger Tage eine Koalitionsregierung. Das Schlimmste schien überstanden. Aber es gab Rückfälle. Gerüchte über ein Scheitern der Troika-Verhandlungen verunsicherten die Märkte im Herbst 2012, wieder zogen die Bankkunden Gelder ab, und erneut musste eine Luftwaffen-Hercules nach Wien starten, um dort weitere 1,84 Milliarden Euro abzuholen.
Die akute Phase der Krise ist überwunden. Doch nur ein kleiner Teil der in den Krisenjahren abgezogenen Gelder ist wieder zu den Banken zurückgeflossen. Das ist der Hauptgrund für die Liquiditätsklemme, die Griechenlands Wirtschaft bis heute stranguliert.