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DIW-Präsident Marcel Fratzscher warnt vor zu großer Euphorie.
© Daniel Naupold/dpa
Exklusiv

Zwischen Rezession und Boom: 2021 könnte zum Jahr der Ernüchterung werden

Viele Wirtschaftsprognosen gehen von einer kräftigen Erholung in diesem Jahr aus. Das dürfte sich als Illusion erweisen. Ein Gastbeitrag.

Selten in den vergangenen Jahrzehnten war die Ungewissheit für die Menschen und die Wirtschaft größer als heute. Selten waren Prognosen – sei es zu Gesundheit oder Wirtschaft – schwieriger als in diesem Jahr. Viele Wirtschaftsprognosen sind zurzeit vom Wunschdenken eines schnellen Endes der Pandemie und einer umgehenden wirtschaftlichen Erholung im Jahr 2021 geprägt.

Dies dürfte sich als Illusion erweisen. Denn zu viele Dinge könnten schiefgehen im kommenden Jahr – die Erholung würde dann schwieriger werden und länger dauern, als es sich viele derzeit vorstellen wollen.

Jede Wirtschaftsprognose ist in Zeiten solch enormer Unsicherheit dazu verurteilt, nicht nur ungenau, sondern schlichtweg daneben zu liegen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir in den Wirtschaftswissenschaften offen und ehrlich die Beschränkungen von Wirtschaftsprognosen betonen. In diesen Zeiten sind unsere Prognosen wenig mehr als Szenarien, also Wenn-Dann-Analysen, die von kaum abschätzbaren Annahmen abhängen – über die Ausbreitung der Pandemie, die Weltwirtschaft, Unternehmensinsolvenzen, Konsum- und Sparverhalten, die Reaktion der Banken und vieles mehr.

Einige der Annahmen werden unweigerlich nicht zutreffen und die Prognosen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit die Realität verfehlen. Trotzdem haben die Prognosen einen Wert, wenn sie Entscheidern in Politik und Wirtschaft helfen, Wirkungszusammenhänge und mögliche Politikinstrumente aufzeigen.

Vor einem Jahr hieß es: Wirtschaftsboom

Wohl noch nie zuvor mussten Wirtschaftsprognosen in so kurzer Zeit so massiv verändert werden wie in diesem Jahr. Im Januar ging man noch von einem Wirtschaftsboom aus, da man – trotz aller Warnungen aus China – einfach nicht die Vorstellungskraft für eine Übertragung der Pandemie auf Europa und die Welt besaß.

Dem folgte die Ernüchterung, die Rede war von einem wirtschaftlichen Armageddon. Die spiegelte sich im Juni in Prognosen wider, die einen wirtschaftlichen Einbruch in Deutschland in diesem Jahr von bis zu zehn Prozent sahen. Dieser Angst folgte eine überzogene Euphorie, als sich die Wirtschaft im dritten Quartal erholte, auch dank eines Booms in China und anderen asiatischen Ländern.

Die Zeichen der Zeit lassen sich in Europa derzeit nur schwer in Wirtschaftsprognosen übersetzen.
Die Zeichen der Zeit lassen sich in Europa derzeit nur schwer in Wirtschaftsprognosen übersetzen.
© IMAGO

Mittlerweile hat die Einsicht eingesetzt, dass mit der andauernden zweiten Infektionswelle auch die Wirtschaftskrise nicht bald überwunden sein wird. Die deutsche Wirtschaft schrumpft im vierten Quartal und könnte dies sehr wohl auch im ersten Quartal 2021 tun, sodass die Wirtschaft damit in eine zweite Rezession fallen dürfte.

Die Schwächsten zahlen den höchsten Preis

So könnte 2021 zum Jahr der Ernüchterung werden, zumindest was die Wirtschaft betrifft. Unternehmensinsolvenzen könnten deutlich steigen, da viele so stark überschuldet sind, dass sie entweder keine Bankkredite mehr bekommen oder keine mehr wollen, Rücklagen aufgebraucht haben und die Aufschiebung der Antragspflicht für Unternehmensinsolvenzen auslaufen wird. Mit den Problemen der Unternehmen dürfte auch die Arbeitslosigkeit steigen und vor allem die Schwächsten, wie die MinijobberInnen, dürften den höchsten Preis zahlen.

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Ein geringerer privater Konsum schwächt die Unternehmen weiter. Dies könnte es für viele Unternehmen schwerer machen, ihre Kredite bei den Banken zu bedienen. Kreditausfälle könnten wiederum einige Banken in Schwierigkeiten bringen und deren Kreditvergabe auch an gesunde Unternehmen und private Haushalte reduzieren. Ein solcher Teufelskreis könnte leichter entstehen als viele glauben. Auch wenn die meisten Banken heute widerstandsfähiger sind als noch vor der globalen Finanzkrise, müssen Politik und Bankenaufsicht solche Probleme frühzeitig identifizieren, um eine systemische Krise zu verhindern.

"America first" bleibt die Devise auch unter Biden

Auch die Weltwirtschaft, von der Deutschland durch seine hohen Exporte abhängig ist, könnte 2021 einige böse Überraschungen bereithalten. Zwar boomt die asiatische Wirtschaft, aber die Hoffnung auf einen wirtschaftlichen Kurswechsel einer neuen US-amerikanischen Regierung dürfte enttäuscht werden. Denn Joseph Biden hat bereits signalisiert, dass er die „America First“- Politik seines Amtsvorgängers Trump fortsetzen wird, wenn auch mit einem freundlichen Gesicht.

Zudem ist und bleibt die europäische Wirtschaft der globale Schwachpunkt, mit vielen Unsicherheitsfaktoren, darunter der Brexit. Da 60 Prozent der deutschen Exporte in europäische Länder gehen, wird sich auch die deutsche Wirtschaft der europäischen Misere nicht entziehen können.

Unter dem Strich könnte das Jahr 2021 deutlich weniger erfreulich verlaufen als die optimistischeren Szenarien der Wirtschaftsprognosen dies sehen und sich alle erhoffen. Eine kluge wirtschaftspolitische Strategie muss sich auf die verschiedenen Risiken vorbereiten, um schnell und effektiv handeln zu können. Alleroberste Priorität muss jedoch erst einmal ein baldiges Ende der zweiten Infektionswelle sein, denn deren Fortsetzung und die damit verbundenen Lockdowns bis in den Frühling hinein würden einen massiven und permanenten Schaden verursachen. 

Marcel Fratzscher leitet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und ist Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Marcel Fratzscher

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